Erinnerungen verblassen von Zeit
zur Zeit. Ist auch gut so,denn sonst
würden wir von Zeit zu Zeit daran zerbrechen.
Und das würde niemanden weiterhelfen.
Ein interessantes Kunstwerk hast Du da abgelichtet.
Lieben Gruß
VERA
ja, das Stilisierte der Mimiken gefiel mir nicht
wobei genau dies ja hier die wirksame Plakativität so erhöht
habe mir nun den Ausdruck die Mimiken selber noch einmal angeschaut
und finde diese popartigen sich so sehr gleichenden schematischen Mimiken sehr ausdrucksarm (für diesen Zweck) und auch "flach" und oberflächlich - es befremdet mich, diese engagiert-riskant-ausdauernden Montags-Demonstrationen so knallig-warenhauswerbewirksam dargestellt zu sehen und kann im Nachhinein meine "spontan-ästhetische" Reaktion aus dem Bauch heraus:
auch wenn ich selbst an keiner der Montagsdemonstrationen der Jahre 1989/1990 teilnehmen konnte und das Gefühl aus Mut, Hoffnung, Euphorie und Angst nicht persönlich und nur aus Erzählungen mir nahestehender Menschen kenne, war diese Zeit aus emotionaler Sicht für mich trotzdem gleich in mehrfacher Hinsicht eine sehr intensiv erlebte Phase in meinem Leben: Rasante politische, ökonomische und strukturelle Veränderungen, parallel dazu die Geburt des Kindes, der Abschluss des Studiums, Bau und Einzug in das Einfamilienhaus, ein bereits während der Studienzeit abgeschlossener Arbeitsvertrag, der aufgrund der ‚Abwicklung‘ der Arbeitsstelle gleich am ersten Arbeitstag gekündigt wurde, eine dadurch verursachte, unmittelbar folgende Arbeitslosigkeit direkt nach dem Studium, Unsicherheiten, erste Schritte über eine offene Grenze, die Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten, Umzug in ein anderes Bundesland ... Brüche ... neue Erfahrungen, neue Wege ... .
Wenn man zurückblickt und die Bilder von damals vor sich hat, wirken sie fast unreal in ihrer Dichte und Fülle, in ihrer Mächtigkeit, oder wie ein Film im Schnelldurchlauf; gleichzeitig rufen sie wieder wach und lassen mit einigem Abstand reflektieren, was einen da so plötzlich erfasst hatte und in ein völlig neues Leben trug.
Möglicherweise wird man das als ein in der DDR aufgewachsener, damals noch recht junger Mensch, der die politische Wende mit 25, 26 Jahren erlebte, besonders eindrucksvoll empfunden haben, da sich neben den ‚großen‘ Umstrukturierungen in so kurzer Zeit auch alle bisher gekannten Dinge des Alltags änderten, manchmal ganz banale, wie beispielsweise der Geschmack und die Konsistenz eines Yoghurts :-), manchmal schwerwiegende und bis dahin nicht erlebte, wie der Gang zu einem Arbeitsamt, und man vieles - vielleicht wie ein Kind - erst grundsätzlich neu aufnehmen und erlernen musste. Ich erinnere mich in dem Zusammenhang auch an erste Begegnungen mit Wasserhähnen, die ohne Berührung funktionierten oder an Ampeln, die man über einen Knopf manuell betätigen konnte, damit sie von Rot auf Grün sprangen ... an Einkaufswagen, die mit einer Mark aus ihrer Verkettung zu befreien waren usw.. All die vielen kleinen Dinge des täglichen Lebens, wozu natürlich auch die Funktionsweise von Behörden, der Banken, der Post u.ä. zählten und die für den ‚BRD-Bürger’ normal und ohne Veränderung blieben, waren erst und in kürzester Zeit zu beobachten, zu erfahren, zu erkunden. Gleichzeitig ließ man bislang Bekanntes, Vertrautes, auch Geschätztes, aber eben vor allem das Beschränkende, Eingrenzende, die Bespitzelungen (an utico: das ist nicht erfunden oder einer Publikation entnommen, sondern einer Stasi-Akte über mich!), eben eine Diktatur zurück, die sich dem Namen nach kurioserweise als demokratisch bezeichnete (DDR).
Aber das ist nun auch nur eine sporadische Auswahl ganz persönlicher Eindrücke, die aus der Zeit in großem Umfang geblieben sind. Bewegend war ja vor allem das Gemeinschaftsgefühl, das Bewusstwerden des „Wir“, dass man mit dem Wir etwas verändern kann, die Zusammengehörigkeit, die Kraft und das friedliche Agieren der Menge. Ein Leipziger Demonstrant drückte es mit treffenden Worten aus: "Ich wollte einfach nur Masse sein." http://www.bpb.de/themen/XK3YRW,0,Friedliche_Revolution.html
Natürlich ist über die Ereignisse viel geschrieben worden. Die Beiträge in der Reihe „ Deutsche Teilung - Deutsche Einheit“ beispielsweise auf der Seite der Bundeszentrale für politische Bildung berichten von diesem Gefühl und den Abläufen, besser und informativer, als ich es mit wenigen Worten ausdrücken könnte; aber auch die umfassend erarbeitete Dokumentation „Chronik der Mauer“ ist diesbezüglich überaus lesenswert. http://www.chronik-der-mauer.de/
Ein paar Sätze an dieser Stelle zur Einstellzeit des Bildes, 21 Uhr: Ich nehme an, sie bezieht sich auf die hier genannte Uhrzeit: „Die Festlegung des Termins 3. Oktober erfolgte in einer am 22. August vom damaligen DDR-Ministerpräsidenten und CDU-Politiker Lothar de Maizière beantragten Sondersitzung der Volkskammer, die um 21 Uhr begann. Nach hitziger Debatte gab die ehemalige Präsidentin der Volkskammer, Sabine Bergmann-Pohl, um 2.30 Uhr am 23. August als Abstimmungsergebnis bekannt:
‚Die Volkskammer erklärt den Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland gemäß Artikel 23 des Grundgesetzes mit der Wirkung vom 3. Oktober 1990. Das liegt Ihnen in der Drucksache Nr. 201 vor. Abgegeben wurden 363 Stimmen. Davon ist keine ungültige Stimme abgegeben worden. Mit Ja haben 294 Abgeordnete gestimmt. Mit Nein haben 62 Abgeordnete gestimmt, und sieben Abgeordnete haben sich der Stimme enthalten. Meine Damen und Herren, ich glaube, das ist ein wirklich historisches Ereignis. Wir haben uns die Entscheidung alle sicher nicht leicht gemacht, aber wir haben sie heute in Verantwortung vor den Bürgern der DDR in der Folge ihres Wählerwillens getroffen. Ich danke allen, die dieses Ergebnis im Konsens über Parteigrenzen hinweg ermöglicht haben.‘“ http://www.lpb-bw.de/deutsche_einheit0.html
Auf eine Äußerung von utico möchte ich eingehen: „Unmittelbar nach der sogenannten Wende hieß es von Oben, daß die DDR sich in drei (3) Jahren der BRD in allen Belangen angeglichen hätte.“ Kein einigermaßen klar und vernünftig denkender Mensch wird sich solchen Illusionen hingegeben haben, wenn sie denn wirklich in der Form geäußert worden sein sollten (Wer ist „Oben“ genau? Fakten sind in Diskussionen immer hilfreich!), dass eine Wirtschaft, die leider in vielen Bereichen Ende der 1980er Jahre einfach nur noch marode war und die z.T. möglicherweise keine weiteren fünf Jahre überstanden hätte, dass Straßen, die in manchen Städten mehr Schlaglöcher beherbergten als Asphalt oder Pflastersteine, dass die zum Teil wunderschönen und stilvollen alten Häuser in den Innenstädten, die Jahrzehnte keine Sanierung mehr erfahren haben, weil dafür Geld und Material fehlten, dass die Schäden, die der Natur beispielsweise über die Braunkohleverbrennung zugefügt wurden, usw., in einer so kurzen Zeit instandgesetzt, erneuert, voll funktionsfähig und in z.T. altem Glanz wieder erstehen könnten. Wie und womit hätte das denn umgesetzt werden sollen?
Es ist diesbezüglich in den letzten zwanzig Jahren unglaublich viel erreicht worden. Wenn ich heute durch manche Städte der ehemaligen DDR laufe, sind sie kaum wiederzuerkennen. Das Kaputte und Graue von einst ist verschwunden zugunsten schön restaurierter Häuser, einer funktionierenden Infrastruktur usw..
Aber man darf darüber nicht die Augen davor verschließen, dass vieles hätte behutsamer und überlegter angegangen werden müssen. Möglicherweise wären viele Landstriche in den neuen Bundesländern heute nicht derart leergeräumt und von hohen Arbeitslosenzahlen mit all den damit verbundenen Problemen betroffen.
Erst kürzlich hatte ich dazu eine sehr interessante Dokumentation im ZDF gesehen, die sich mit de Abwicklung der Betriebe nach der Wende befasste: „Beutezug Ost – Die Treuhand und die Abwicklung der DDR“ bei Frontal21 am 14.09.2010. „Wie dort geschildert wird, sind in der ehemaligen DDR Betriebe reihenweise unter Wert verkauft worden – an westdeutsche Geschäftsleute wie im konkreten Fall der WBB in der Dokumentation vom 31. August, an westdeutsche ‚Anleger‘ und an Bürger der ehemaligen DDR, so weit sie gut im Geschäft waren.“ http://www.politik.de/forum/wirtschaft/225420-beutezug.html „Verramscht, zerschlagen, abgewickelt - für Kritiker begann mit der Gründung der Treuhandanstalt vor 20 Jahren der Ausverkauf der DDR: Tausende volkseigene Betriebe wurden geschlossen, Millionen DDR-Bürger arbeitslos, ganze Regionen Ostdeutschlands deindustrialisiert. Noch heute tragen deutsche Steuerzahler an den Folgen des gnadenlosen Privatisierungseifers der damals mächtigsten Behörde. Die Frontal21-Dokumentation ‚Beutezug Ost‘ geht der Frage nach, wie aus dem Wert der DDR-Betriebe, den Treuhandpräsident Rohwedder damals auf 600 Milliarden D-Mark schätzte, ein Milliardendefizit werden konnte.“ http://frontal21.zdf.de/ZDFde/programm/0,6753,PrAutoOp_idPoDispatch:9935358,00.html Das macht durchaus sehr nachdenklich! Dazu passt auch die immer wieder einmal gewählte Äußerung, dass die DDR-Wirtschaft insgesamt derart am Boden war, dass der Staat kurz vor der Insolvenz stand. „War die DDR bankrott und total marode? - Fiktion und Wirklichkeit 1989“: http://www.memo.uni-bremen.de/docs/m2706b.pdf Selbstverständlich muss man diese Fakten kritisch betrachten und mit anderen seriösen Publikationen vergleichen; zugleich zeigt sich damit aber die Notwendigkeit für jeden Einzelnen, sich mit der Geschichte der deutschen Einheit noch eingehender zu befassen, um verstehen und einordnen zu können, wie der Prozess wirklich abgelaufen ist, welche Fehler dabei auch gemacht wurden und wie man sie hätte vermeiden können.
Will man beurteilen, ob der Prozess der Wiedervereinigug der beiden deutschen Staaten gelungen ist, wird man auch die ost-westdeutsche Integrationsbilanz heranziehen müssen, die mir in Bezug auf das Verständnis der Einstellungen und Meinungen der Menschen in den alten und neuen Bundesländern sehr aufschlussreich erscheint. „Welche Bilanz lässt sich ziehen? - Nach wie vor zeigen sich in Ostdeutschland höhere Desintegrationsbelastungen sowohl auf der sozialstrukturellen als auch auf der institutionellen und sozio-emotionalen Ebene. - Das subjektive Gefühl der Benachteiligung gegenüber Westdeutschen ist unter Ostdeutschen sehr verbreitet. - Desintegrationsbelastungen und Benachteiligungsgefühle haben Auswirkungen auf den Grundwert der Gleichwertigkeit aller Menschen. Personen, die sich selbst nicht anerkannt und benachteiligt fühlen, sind eher bereit, andere abzuwerten. Die höheren Desintegrationsbelastungen und Benachteiligungsgefühle in Ostdeutschland können erklären, warum abwertende Einstellungen gegenüber schwachen Gruppen in Ostdeutschland verbreiteter sind.“ http://www.bundestag.de/dasparlament/2009/28/Beilage/003.html
„Jammer-Ossis. Zwei Drittel von ihnen fühlen sich als Bürger zweiter Klasse, 20 Jahre nach der Einheit. Zu Recht?“ Dazu Raj Kollmorgen, Soziologe in der monitor-Sendung „Elite made in Westdeutschland - Warum Ostdeutsche draußen bleiben“ vom 30.09.2010: "Wo es deutliche soziale Ungleichheiten gibt, ist der Bereich der
Aufstiegschancen in unserer Gesellschaft, in der Besetzung von Elitepositionen. Hier sind die Ostdeutschen tatsächlich weiter Bürger zweiter Klasse. Ostdeutsche machen rund 18 Prozent der deutschen Bevölkerung aus, aber nur etwa 7,5 Prozent der deutschen Elite. Das heißt, über 90 Prozent der Spitzenpositionen werden von
Westdeutschen besetzt. Beispiel: Wirtschaft. Kein einziges DAX-Unternehmen wird von einem Ostdeutschen geführt. Nur selten findet sich überhaupt einer im Vorstand. So auch in Deutschlands einflussreichstem Wirtschaftsverband - dem Bundesverband der Industrie. Von 54 Präsidiumsmitgliedern stammt gerade mal einer aus dem Osten. Beispiel Wissenschaft. Von bundesweit 88 Hochschulrektoren sind nur drei aus Ostdeutschland. Und bei normalen Professoren ist das Verhältnis nicht viel besser." Prof. Pirmin Stekeler-Weithofer, Sächsische Akademie der Wissenschaften: "Die Regel ist, dass ostdeutsche Kollegen in Westdeutschland bei westdeutschen Bewerbungen kaum oder null Chancen haben und in Ostdeutschland wenig. Selbst wenn sie an erster Stelle einer
Berufungsliste sind, kann es dann sein, dass jemand interveniert und sagt, das jemand aus Ostdeutschland wollen wir nicht." http://www.wdr.de/tv/monitor//sendungen/2010/0930/pdf/elite.pdfhttp://www.ardmediathek.de/ard/servlet/content/3517136?documentId=5502920
Beim Rückblick auf zwanzig Jahre Einheit, auf zwanzig Jahre Freiheit, wird man vieles sehen, worauf man sehr stolz sein kann, was sehr gut gelungen ist, was den Menschen, dem Land und nicht zuletzt auch einem geeinten Europa zugute kommt. Ich persönlich kann und wollte mir ein Zurück nicht mehr vorstellen. Aber es bleiben auch manche Dinge, die mit kritischen Blick betrachtet, aufgearbeitet und entsprechend angepasst werden müssen. Eine dringende Notwendigkeit sehe ich darin, den jungen Menschen in unserem Land ihre eigene Geschichte vertraut zu machen. Das erfolgt bislang nicht in ausreichendem Maße. http://www.spiegel.de/schulspiegel/wissen/0,1518,567907,00.html
Zum Abschluss: Dass man an dieser Stelle so offen über solche Dinge schreiben und eine Meinung äußern kann, dass man sich bilden und informieren kann, ohne, dass eine Zensur vorab bereits gefiltert hätte, was gelesen, gesehen und gehört werden darf, ist für mich ein ganz wesentlicher Aspekt dieser neugewonnenen Freiheit, wenn nicht sogar der wesentlichste. Insgesamt betrachtet, bringt Freiheit aber nicht nur Möglichkeiten und Rechte mit sich, sondern auch Pflichten und Verantwortung.
@utico: Hallo utico, ich werde meine Gedanken zum Bild als 'gelernter Ossi' auch noch schreiben, allerdings werden sie nicht ausfallen wie deine Überlegungen, sondern sich eher dem 'Angelesenen' nähern, weil es der geschichtlichen Realität entspricht, auch wenn man nichts schwarz-weiß sehen darf!
Welchen Weg hättest Du eigentlich beschreiten wollen; wie hätte der ausgesehen? Das würde mich wirklich sehr interessieren.
Und ergänzend: Ich gehörte zu denen, die die Wende und ein geeintes Deutschland aus tiefem, ehrlichen Herzen wollten und die heute froh darüber sind, dass das gelungen ist! Dass noch vieles aufgearbeitet und optimiert werden muss und dass an der Einheit weiter gearbeitet werden muss, ist klar! Das ist eine Aufgabe, die man durchaus positiv sehen kann.
Vera Laake 12/10/2010 19:36
Erinnerungen verblassen von Zeitzur Zeit. Ist auch gut so,denn sonst
würden wir von Zeit zu Zeit daran zerbrechen.
Und das würde niemanden weiterhelfen.
Ein interessantes Kunstwerk hast Du da abgelichtet.
Lieben Gruß
VERA
† werner weis 11/10/2010 20:28
Hallo Eckhart,
ja, das Stilisierte der Mimiken gefiel mir nicht
wobei genau dies ja hier die wirksame Plakativität so erhöht
habe mir nun den Ausdruck die Mimiken selber noch einmal angeschaut
und finde diese popartigen sich so sehr gleichenden schematischen Mimiken sehr ausdrucksarm (für diesen Zweck) und auch "flach" und oberflächlich - es befremdet mich, diese engagiert-riskant-ausdauernden Montags-Demonstrationen so knallig-warenhauswerbewirksam dargestellt zu sehen und kann im Nachhinein meine "spontan-ästhetische" Reaktion aus dem Bauch heraus:
"polierte Fressen
glatte Mimiken
(bedeutende) Feiern
sehen eigentlich anders aus"
nachvollziehen - sie war aber zu knapp gehalten.
MhG Werner
Kerstin Stolzenburg 11/10/2010 17:27
"Die Zeit ins Land gehen lassen":Man hat allerdings auch nicht unendlich viel davon (in einem Leben) zur Verfügung.
Kerstin
Kerstin Stolzenburg 10/10/2010 12:08
Lieber Eckhard,auch wenn ich selbst an keiner der Montagsdemonstrationen der Jahre 1989/1990 teilnehmen konnte und das Gefühl aus Mut, Hoffnung, Euphorie und Angst nicht persönlich und nur aus Erzählungen mir nahestehender Menschen kenne, war diese Zeit aus emotionaler Sicht für mich trotzdem gleich in mehrfacher Hinsicht eine sehr intensiv erlebte Phase in meinem Leben: Rasante politische, ökonomische und strukturelle Veränderungen, parallel dazu die Geburt des Kindes, der Abschluss des Studiums, Bau und Einzug in das Einfamilienhaus, ein bereits während der Studienzeit abgeschlossener Arbeitsvertrag, der aufgrund der ‚Abwicklung‘ der Arbeitsstelle gleich am ersten Arbeitstag gekündigt wurde, eine dadurch verursachte, unmittelbar folgende Arbeitslosigkeit direkt nach dem Studium, Unsicherheiten, erste Schritte über eine offene Grenze, die Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten, Umzug in ein anderes Bundesland ... Brüche ... neue Erfahrungen, neue Wege ... . Wenn man zurückblickt und die Bilder von damals vor sich hat, wirken sie fast unreal in ihrer Dichte und Fülle, in ihrer Mächtigkeit, oder wie ein Film im Schnelldurchlauf; gleichzeitig rufen sie wieder wach und lassen mit einigem Abstand reflektieren, was einen da so plötzlich erfasst hatte und in ein völlig neues Leben trug.
Möglicherweise wird man das als ein in der DDR aufgewachsener, damals noch recht junger Mensch, der die politische Wende mit 25, 26 Jahren erlebte, besonders eindrucksvoll empfunden haben, da sich neben den ‚großen‘ Umstrukturierungen in so kurzer Zeit auch alle bisher gekannten Dinge des Alltags änderten, manchmal ganz banale, wie beispielsweise der Geschmack und die Konsistenz eines Yoghurts :-), manchmal schwerwiegende und bis dahin nicht erlebte, wie der Gang zu einem Arbeitsamt, und man vieles - vielleicht wie ein Kind - erst grundsätzlich neu aufnehmen und erlernen musste. Ich erinnere mich in dem Zusammenhang auch an erste Begegnungen mit Wasserhähnen, die ohne Berührung funktionierten oder an Ampeln, die man über einen Knopf manuell betätigen konnte, damit sie von Rot auf Grün sprangen ... an Einkaufswagen, die mit einer Mark aus ihrer Verkettung zu befreien waren usw.. All die vielen kleinen Dinge des täglichen Lebens, wozu natürlich auch die Funktionsweise von Behörden, der Banken, der Post u.ä. zählten und die für den ‚BRD-Bürger’ normal und ohne Veränderung blieben, waren erst und in kürzester Zeit zu beobachten, zu erfahren, zu erkunden. Gleichzeitig ließ man bislang Bekanntes, Vertrautes, auch Geschätztes, aber eben vor allem das Beschränkende, Eingrenzende, die Bespitzelungen (an utico: das ist nicht erfunden oder einer Publikation entnommen, sondern einer Stasi-Akte über mich!), eben eine Diktatur zurück, die sich dem Namen nach kurioserweise als demokratisch bezeichnete (DDR).
Aber das ist nun auch nur eine sporadische Auswahl ganz persönlicher Eindrücke, die aus der Zeit in großem Umfang geblieben sind. Bewegend war ja vor allem das Gemeinschaftsgefühl, das Bewusstwerden des „Wir“, dass man mit dem Wir etwas verändern kann, die Zusammengehörigkeit, die Kraft und das friedliche Agieren der Menge. Ein Leipziger Demonstrant drückte es mit treffenden Worten aus: "Ich wollte einfach nur Masse sein." http://www.bpb.de/themen/XK3YRW,0,Friedliche_Revolution.html
Natürlich ist über die Ereignisse viel geschrieben worden. Die Beiträge in der Reihe „ Deutsche Teilung - Deutsche Einheit“ beispielsweise auf der Seite der Bundeszentrale für politische Bildung berichten von diesem Gefühl und den Abläufen, besser und informativer, als ich es mit wenigen Worten ausdrücken könnte; aber auch die umfassend erarbeitete Dokumentation „Chronik der Mauer“ ist diesbezüglich überaus lesenswert. http://www.chronik-der-mauer.de/
Ein paar Sätze an dieser Stelle zur Einstellzeit des Bildes, 21 Uhr: Ich nehme an, sie bezieht sich auf die hier genannte Uhrzeit: „Die Festlegung des Termins 3. Oktober erfolgte in einer am 22. August vom damaligen DDR-Ministerpräsidenten und CDU-Politiker Lothar de Maizière beantragten Sondersitzung der Volkskammer, die um 21 Uhr begann. Nach hitziger Debatte gab die ehemalige Präsidentin der Volkskammer, Sabine Bergmann-Pohl, um 2.30 Uhr am 23. August als Abstimmungsergebnis bekannt:
‚Die Volkskammer erklärt den Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland gemäß Artikel 23 des Grundgesetzes mit der Wirkung vom 3. Oktober 1990. Das liegt Ihnen in der Drucksache Nr. 201 vor. Abgegeben wurden 363 Stimmen. Davon ist keine ungültige Stimme abgegeben worden. Mit Ja haben 294 Abgeordnete gestimmt. Mit Nein haben 62 Abgeordnete gestimmt, und sieben Abgeordnete haben sich der Stimme enthalten. Meine Damen und Herren, ich glaube, das ist ein wirklich historisches Ereignis. Wir haben uns die Entscheidung alle sicher nicht leicht gemacht, aber wir haben sie heute in Verantwortung vor den Bürgern der DDR in der Folge ihres Wählerwillens getroffen. Ich danke allen, die dieses Ergebnis im Konsens über Parteigrenzen hinweg ermöglicht haben.‘“
http://www.lpb-bw.de/deutsche_einheit0.html
Auf eine Äußerung von utico möchte ich eingehen: „Unmittelbar nach der sogenannten Wende hieß es von Oben, daß die DDR sich in drei (3) Jahren der BRD in allen Belangen angeglichen hätte.“ Kein einigermaßen klar und vernünftig denkender Mensch wird sich solchen Illusionen hingegeben haben, wenn sie denn wirklich in der Form geäußert worden sein sollten (Wer ist „Oben“ genau? Fakten sind in Diskussionen immer hilfreich!), dass eine Wirtschaft, die leider in vielen Bereichen Ende der 1980er Jahre einfach nur noch marode war und die z.T. möglicherweise keine weiteren fünf Jahre überstanden hätte, dass Straßen, die in manchen Städten mehr Schlaglöcher beherbergten als Asphalt oder Pflastersteine, dass die zum Teil wunderschönen und stilvollen alten Häuser in den Innenstädten, die Jahrzehnte keine Sanierung mehr erfahren haben, weil dafür Geld und Material fehlten, dass die Schäden, die der Natur beispielsweise über die Braunkohleverbrennung zugefügt wurden, usw., in einer so kurzen Zeit instandgesetzt, erneuert, voll funktionsfähig und in z.T. altem Glanz wieder erstehen könnten. Wie und womit hätte das denn umgesetzt werden sollen?
Es ist diesbezüglich in den letzten zwanzig Jahren unglaublich viel erreicht worden. Wenn ich heute durch manche Städte der ehemaligen DDR laufe, sind sie kaum wiederzuerkennen. Das Kaputte und Graue von einst ist verschwunden zugunsten schön restaurierter Häuser, einer funktionierenden Infrastruktur usw..
Aber man darf darüber nicht die Augen davor verschließen, dass vieles hätte behutsamer und überlegter angegangen werden müssen. Möglicherweise wären viele Landstriche in den neuen Bundesländern heute nicht derart leergeräumt und von hohen Arbeitslosenzahlen mit all den damit verbundenen Problemen betroffen.
Erst kürzlich hatte ich dazu eine sehr interessante Dokumentation im ZDF gesehen, die sich mit de Abwicklung der Betriebe nach der Wende befasste: „Beutezug Ost – Die Treuhand und die Abwicklung der DDR“ bei Frontal21 am 14.09.2010. „Wie dort geschildert wird, sind in der ehemaligen DDR Betriebe reihenweise unter Wert verkauft worden – an westdeutsche Geschäftsleute wie im konkreten Fall der WBB in der Dokumentation vom 31. August, an westdeutsche ‚Anleger‘ und an Bürger der ehemaligen DDR, so weit sie gut im Geschäft waren.“ http://www.politik.de/forum/wirtschaft/225420-beutezug.html „Verramscht, zerschlagen, abgewickelt - für Kritiker begann mit der Gründung der Treuhandanstalt vor 20 Jahren der Ausverkauf der DDR: Tausende volkseigene Betriebe wurden geschlossen, Millionen DDR-Bürger arbeitslos, ganze Regionen Ostdeutschlands deindustrialisiert. Noch heute tragen deutsche Steuerzahler an den Folgen des gnadenlosen Privatisierungseifers der damals mächtigsten Behörde. Die Frontal21-Dokumentation ‚Beutezug Ost‘ geht der Frage nach, wie aus dem Wert der DDR-Betriebe, den Treuhandpräsident Rohwedder damals auf 600 Milliarden D-Mark schätzte, ein Milliardendefizit werden konnte.“ http://frontal21.zdf.de/ZDFde/programm/0,6753,PrAutoOp_idPoDispatch:9935358,00.html Das macht durchaus sehr nachdenklich! Dazu passt auch die immer wieder einmal gewählte Äußerung, dass die DDR-Wirtschaft insgesamt derart am Boden war, dass der Staat kurz vor der Insolvenz stand. „War die DDR bankrott und total marode? - Fiktion und Wirklichkeit 1989“: http://www.memo.uni-bremen.de/docs/m2706b.pdf Selbstverständlich muss man diese Fakten kritisch betrachten und mit anderen seriösen Publikationen vergleichen; zugleich zeigt sich damit aber die Notwendigkeit für jeden Einzelnen, sich mit der Geschichte der deutschen Einheit noch eingehender zu befassen, um verstehen und einordnen zu können, wie der Prozess wirklich abgelaufen ist, welche Fehler dabei auch gemacht wurden und wie man sie hätte vermeiden können.
Will man beurteilen, ob der Prozess der Wiedervereinigug der beiden deutschen Staaten gelungen ist, wird man auch die ost-westdeutsche Integrationsbilanz heranziehen müssen, die mir in Bezug auf das Verständnis der Einstellungen und Meinungen der Menschen in den alten und neuen Bundesländern sehr aufschlussreich erscheint. „Welche Bilanz lässt sich ziehen? - Nach wie vor zeigen sich in Ostdeutschland höhere Desintegrationsbelastungen sowohl auf der sozialstrukturellen als auch auf der institutionellen und sozio-emotionalen Ebene. - Das subjektive Gefühl der Benachteiligung gegenüber Westdeutschen ist unter Ostdeutschen sehr verbreitet. - Desintegrationsbelastungen und Benachteiligungsgefühle haben Auswirkungen auf den Grundwert der Gleichwertigkeit aller Menschen. Personen, die sich selbst nicht anerkannt und benachteiligt fühlen, sind eher bereit, andere abzuwerten. Die höheren Desintegrationsbelastungen und Benachteiligungsgefühle in Ostdeutschland können erklären, warum abwertende Einstellungen gegenüber schwachen Gruppen in Ostdeutschland verbreiteter sind.“ http://www.bundestag.de/dasparlament/2009/28/Beilage/003.html
„Jammer-Ossis. Zwei Drittel von ihnen fühlen sich als Bürger zweiter Klasse, 20 Jahre nach der Einheit. Zu Recht?“ Dazu Raj Kollmorgen, Soziologe in der monitor-Sendung „Elite made in Westdeutschland - Warum Ostdeutsche draußen bleiben“ vom 30.09.2010: "Wo es deutliche soziale Ungleichheiten gibt, ist der Bereich der
Aufstiegschancen in unserer Gesellschaft, in der Besetzung von Elitepositionen. Hier sind die Ostdeutschen tatsächlich weiter Bürger zweiter Klasse. Ostdeutsche machen rund 18 Prozent der deutschen Bevölkerung aus, aber nur etwa 7,5 Prozent der deutschen Elite. Das heißt, über 90 Prozent der Spitzenpositionen werden von
Westdeutschen besetzt. Beispiel: Wirtschaft. Kein einziges DAX-Unternehmen wird von einem Ostdeutschen geführt. Nur selten findet sich überhaupt einer im Vorstand. So auch in Deutschlands einflussreichstem Wirtschaftsverband - dem Bundesverband der Industrie. Von 54 Präsidiumsmitgliedern stammt gerade mal einer aus dem Osten. Beispiel Wissenschaft. Von bundesweit 88 Hochschulrektoren sind nur drei aus Ostdeutschland. Und bei normalen Professoren ist das Verhältnis nicht viel besser." Prof. Pirmin Stekeler-Weithofer, Sächsische Akademie der Wissenschaften: "Die Regel ist, dass ostdeutsche Kollegen in Westdeutschland bei westdeutschen Bewerbungen kaum oder null Chancen haben und in Ostdeutschland wenig. Selbst wenn sie an erster Stelle einer
Berufungsliste sind, kann es dann sein, dass jemand interveniert und sagt, das jemand aus Ostdeutschland wollen wir nicht." http://www.wdr.de/tv/monitor//sendungen/2010/0930/pdf/elite.pdf http://www.ardmediathek.de/ard/servlet/content/3517136?documentId=5502920
Beim Rückblick auf zwanzig Jahre Einheit, auf zwanzig Jahre Freiheit, wird man vieles sehen, worauf man sehr stolz sein kann, was sehr gut gelungen ist, was den Menschen, dem Land und nicht zuletzt auch einem geeinten Europa zugute kommt. Ich persönlich kann und wollte mir ein Zurück nicht mehr vorstellen. Aber es bleiben auch manche Dinge, die mit kritischen Blick betrachtet, aufgearbeitet und entsprechend angepasst werden müssen. Eine dringende Notwendigkeit sehe ich darin, den jungen Menschen in unserem Land ihre eigene Geschichte vertraut zu machen. Das erfolgt bislang nicht in ausreichendem Maße. http://www.spiegel.de/schulspiegel/wissen/0,1518,567907,00.html
Zum Abschluss: Dass man an dieser Stelle so offen über solche Dinge schreiben und eine Meinung äußern kann, dass man sich bilden und informieren kann, ohne, dass eine Zensur vorab bereits gefiltert hätte, was gelesen, gesehen und gehört werden darf, ist für mich ein ganz wesentlicher Aspekt dieser neugewonnenen Freiheit, wenn nicht sogar der wesentlichste. Insgesamt betrachtet, bringt Freiheit aber nicht nur Möglichkeiten und Rechte mit sich, sondern auch Pflichten und Verantwortung.
Kerstin
Kerstin Stolzenburg 08/10/2010 7:55
@utico: Hallo utico, ich werde meine Gedanken zum Bild als 'gelernter Ossi' auch noch schreiben, allerdings werden sie nicht ausfallen wie deine Überlegungen, sondern sich eher dem 'Angelesenen' nähern, weil es der geschichtlichen Realität entspricht, auch wenn man nichts schwarz-weiß sehen darf!Welchen Weg hättest Du eigentlich beschreiten wollen; wie hätte der ausgesehen? Das würde mich wirklich sehr interessieren.
Und ergänzend: Ich gehörte zu denen, die die Wende und ein geeintes Deutschland aus tiefem, ehrlichen Herzen wollten und die heute froh darüber sind, dass das gelungen ist! Dass noch vieles aufgearbeitet und optimiert werden muss und dass an der Einheit weiter gearbeitet werden muss, ist klar! Das ist eine Aufgabe, die man durchaus positiv sehen kann.
Kerstin