angesichts grauschlei'rigen gewölks
herz frohlocke
im erhaschen erdfarbig-starken gesteins
die glocke wissend gut gehüllt
in turmspitz zuströmender botschaft
ock'rig geführt
~
lieben gruß
IngriD
Bernd - na fein - dann treffen wir uns aber mal! :) Dabo kenne ich auch gut! :)
Myrrhine - hier ist er:
Abwarten und Tee trinken
Der 30. August war gewittrig und begann damit, dass sie Geburtstag hatte. ‚Den xte. von allen’, wie die Werbung eines bekannten Magenbitters, dachte sie mit schrägem Grinsen. Zum Glück hatte sie niemanden eingeladen. Normal, ruhig und unpathetisch sollte dieser Tag verlaufen und sie schonend davon abhalten, an ihr halbes Jahrhundert zu denken. Kein Gläserklingen, keine Reden und blöden Sprüche, kein Geduldhaben-, Mitlachen-, Ertragenmüssen.
Nur ihre Mutter war, wie jedes Jahr, einige Tage zu Besuch gekommen und hatte den traditionellen Familien-Hefekuchen, den sie sich gewünscht hatte, mitgebracht: Hefeschnecken mit Haselnussfüllung – eine echte Herausforderung für jeden Gebissträger und eine wahre Lektion der Selbstbeherrschung, denn man aß oder man atmete oder redete, aber es war nicht angezeigt beides gleichzeitig zu tun. Für den Gastgeber war dieser Kuchen gleichzeitig eine sehr sanfte Art jemandem das ‚Maul zu stopfen’. Wie oft hatten sie früher „Überfallgäste“, das war unliebsamer Überraschungsbesuch, der mit den freundlichen Worten „Aber bitte, greifen Sie doch zu, nehmen Sie doch noch ein Stückchen“ vorübergehend mundtot gemacht wurde. Ihr Großvater hatte seine Methode gefunden, ihn zu zähmen, er tunkte ihn in den Kaffee und er schmolz dahin – der Kuchen sowohl wie der Großvater! Aber das ging natürlich nur im engsten Familienkreis, alle anderen machten verbissen ihre Trockenübungen.
Sie hatten es sich im Garten hinter dem Haus bequem gemacht. Es war inzwischen schon 16 Uhr und der Tag war fast ‚vollbracht’, als in die friedvolle und entspannte Atmosphäre unschön der Haustürgong einbrach. Sofort schreckte der Hund auf, der den Kopf auf seiner Pfote, vor sich hingedöst hatte, gewiegt vom Geräusch ihrer Stimmen. Hysterisch bellend rannte er zur Gartenpforte, dass der Kies wegspritzte, und verwarnte dort sehr nachdrücklich die vermeintlichen Eindringlinge und Feinde. „Hast du jemanden eingeladen?“ fragte ihre Mutter. „Es weiß doch keiner – und die anderen wissen, dass ich nicht feiere!“ lautete die logische Antwort. Was tun? Sich taub stellen und einfach überhören? Angesichts des frenetischen Gebells war das eher etwas für starke Nerven und zumindest der Hund hatte welche! „Das können wir nicht machen…“ sagte ihre Mutter, die ihre Tochter auch ohne Worte verstand. Also - nachsehen.
Sie ging zur Gartenpforte. Dort standen sie – das Geburtstagskommando und sie fuhren scharfe Geschütze auf: Nett zurechtgemacht mit frisch gedauerwelltem Lockenhelm, angetan in altrosa und silbergrau, die eine pastos geschminkt, die andere mit starkem Altersdamenbart, standen sie da mit maskenhaftem Glückwunschgesicht und der unumstößlichen Gewissheit, Einlass zu bekommen. Vorsichtshalber hatten sich beide Nachbarinnen mit je einem floralen Passe par tout bewaffnet. Grenzenloses Erstaunen heuchelnd nahm sie Feindkontakt auf, kuschte den Hund zur Ruhe und öffnete die Gartentür: „Na so was, das ist aber eine nette Überraschung, kommen Sie doch herein! - Aber was ist das denn? – Was… für mich? ….aber woher wussten Sie denn? - Das ist aber wirklich nett!“ Die üblichen Sätze in Situationen, wo die draußen unbedingt reinwollen und die drinnen sich nicht trauen, diese nicht reinzulassen. Die Sprache ihres Herzens lautete in freier Übersetzung: ‚Oh nein, nicht die zwei, wer zum Teufel hat’s ihnen verraten, und was soll ich mit den zwei Friedhofsarrangements?’ Es hagelte Glückwünsche in stereo.
Mit einem Blick auf das ungeheuere Sitzfleisch der Gäste hatte ihre Mutter die Situation schon von weitem mit geübtem Blick erfasst: ‚Den restlichen Nachmittag konnte man vergessen’ und ging Kaffee kochen. Währenddessen schleuste die Tochter die dazugekommenen 165 Jahre durch den engen Hausflur ins Esszimmer, verstaute zwei sperrige Handtaschen und einen Gehstock an der Garderobe, schob Stühle zurecht, und bat „Platz zu nehmen“, dumpf ahnend, dass es sich hier eher um eine Landnahme handelte.
Bereits auf dem Weg ins Esszimmer wurde alles blitzschnell abgelichtet, sie hörte förmlich das Klicken bei jeder Augenbewegung ihrer Gäste. Nachdem man es sich geräuschvoll in sich zusammensackend auf den zierlichen Art-deco-Stühlen bequem gemacht hatte, erfolgte die Vorstellung: „ Darf ich Ihnen meine Mutter vorstellen, Mama, das sind meine reizenden Nachbarinnen, Frau Weier und Frau Heber. – Aber nein, um Gottes Willen, bleiben Sie doch sitzen!“ Nach überzeugend vorgetragenem Hin-und-Hergefreue über die neue Bekanntschaft und die nette Überraschung ging man über zur eingehenden Betrachtung der auf dem Esstisch abgestellten Schlüsselfiguren dieses Spiels, den erdschweren, voluminösen Blumenschalen: Rechts Geranien, keineswegs traurige wie bei Borchert, sondern aufdringlich fuchsienrote, ihrer erklärten Lieblingsfarbe, in trauter Zweisamkeit mit Plectranthus, der den Raum unangenehm verweihräucherte. Links eine Schale mit kirschroten Petunien umrahmt von Sanvitalia. Sie hasste alles ohne jede Bevorzugung: Den Friedhofsgeruch der Geranien, kirsch- und fuchsienrot und die schwüle Ausdünstung des Plectranthus, aber sie lobte die Zwergsonnenblumen, den schönen grün-weißen Fall des Plectranthus, die Nützlichkeit der Petunien, die regelrechte Läusefallen waren. Sie blieben in deren klebrig haarigen Blättern hängen und verendeten, ekelerregend und sinnlos.
Inzwischen hatte sie rasch den Tisch gedeckt und die ungetümen Blumenschalen als Tischzentrum zu ungeahnten Ehren gebracht. Der Kuchen lag nach stundenlanger Autofahrt und einem weiteren Tag altbacken, aber stimmig zum restlichen Ambiente auf den Tellern. Die Gäste saßen gleichsam attackebereit, hielten aber vorsichtig spähend, doch umsonst, Umschau nach einem Ausweichkuchen.
Ihre Mutter war nach oben gegangen und hatte das Feld unter fadenscheinigen Vorwänden geräumt. Aus der Küche hörte man nur das Fauchen des sehr behäbig durchlaufenden Kaffees. „Die Kaffeemaschine ist verkalkt, Sie müssen entschuldigen.“ – „Das kenn ich, bei mir ist es genau dasselbe!“ Die unfreiwillige Komik der Situation amüsierte sie, ‚man hört es aber nicht so!’, dachte sie und ihr heimliches Lächeln ging vom rechten bis zum linken Innenohr. „Wenn man sie regelmäßig entkalkt, halten sie länger!“ bemerkte Frau Weier spitz, worauf die Gastgeberin lieber nichts antwortete, noch nicht einmal in Gedanken…
Endlich konnte man den heiß ersehnten Kaffee eingießen, der sich im ersten Fall als zu heiß und im zweiten als zu stark entpuppte. Lautstark verbreitete man sich über seine Gewohnheiten, von denen man keinen Millimeter abrückte, sich dafür aber wortreich entschuldigte. „Aber wegen uns bitte keine Umstände!“ „Aber wo denken Sie denn hin (aus dem Alter bin ich zum Glück raus!)“ und schon war sie wieder in der Küche holte kalte Milch für den zu heißen Kaffee und setzte Wasser auf, um den „Herzkasperlkaffee“ zu „strecken“. Die Tatsache, dass sie jetzt in der Küche war und quasi nur von fern der Unterhaltung folgen konnte, verlieh den Gästen Flügel. Man schrie ihr Artigkeiten über den guten Geschmack der Einrichtung zu, wie man Hunden Knochen hinwirft. „Wie lange wohnen Sie jetzt schon hier, ach, doch schon so lange, aber es ist so, man wird nie fertig, es muss immer noch etwas renoviert werden. Meine Tapeten müssten auch mal wieder erneuert werden. Aber Ihre Möbel sind hübsch, solche hatte meine Schwiegermutter auch, aber dann hatte sie sich moderner eingerichtet, irgendwann konnte sie den alten Kram nicht mehr sehen. – Was sagen Sie, Resopalmöbel, keine Ahnung, sie hatte sich so Wandschränke gekauft, die verschiedenfarbige Türen hatten, wissen Sie. Hell und freundlich und gut sauber zu halten.“
Sie kehrte ins Esszimmer zurück, nun konnte man zum gemütlichen Teil übergehen. Der Kaffee war jetzt „so wie er sein muss“, das erste Stück Kuchen serviert, und aus bekannten Gründen entstand eine betriebstechnische Pause. Gespannt und mit unverhohlener Schadenfreude sah sie in die Gesichter ihrer Gäste, sah ihre vorschriftsmäßig geschlossenen Münder, ihre mahlenden Kiefer, ihre Konzentration. „Darf ich Ihnen noch ein Stückchen auftun? – Ein Päuschen! – sicher! – Noch eine Tasse Kaffee? Aber gerne! Und ein Glas Wasser, freilich, es ist heiß heute!“ Die Unterhaltung wurde so wieder flüssiger, umwob Themen wie Nachbarschaft, früher, heute. Beide umspannen ihren jeweiligen Lieblingsgegenstand, mal abwechselnd, mal parallel, wobei keine recht wusste, worüber die andere redete und nur einem inneren Drang zu gehorchen schien. Jede entlud sich, jede in eines der beiden Ohren ihrer Gastgeberin. Sie hörte schon eine Weile nicht mehr richtig zu, hatte es aufgegeben, sich an gewisse Gesprächsregeln zu halten, schaute immer öfter auf die Uhr und verteilte üppig Placeboantworten. Notbremse ziehen, durchfuhr es sie.
„Aber jetzt dürfen Sie mir nicht wieder eine abschlägige Antwort erteilen, Geburtstagskuchen darf man nicht ausschlagen!“, schimpfte sie gutmütig. Es gelang, man musste sich nötigen lassen. „Eins zu eins“ notierte sie hämisch in Gedanken. Sofort versiegte der Redestrom und wohlige Stille machte sich breit – leider nicht lange, denn inzwischen war man vorgeimpft. Ungeniert fuhr man fort auf seiner Zeitreise und die Erzählungen enthielten viel Pathos, viele Frikative und viel trockenen Hefekuchen – und sie saß immerhin gegenüber. So allmählich wandelte sich das Klima in Trockenklima, sogar ihr angeborener Humor verkrustete und bröckelte stückchenweise ab.
Die Zeit verging, aber sie schien endlos. Das dritte Stück Kuchen verklebte inzwischen die Zahnlücken der ihr gegenübersitzenden malmenden Gebisse, die Tischdecke erinnerte an die Technik des Pointillismus, Ekel beschlich sie. Automatisch drehte sie eine der Pflanzen nur um sich auf etwas anderes zu konzentrieren. „Ich sehe, Sie mögen diese Blumen genauso gern wie ich!“ sagte Frau Heber, „es sind meine Lieblingsblumen und welche gefallen Ihnen sonst noch?“ Ihr Blick glitt von den Pflanzen zu dem borstigen, schwarzen Damenbart. „Geißbart und Bartnelken“ entfuhr es ihr wie auf Knopfdruck, denn Botanik war ihr Steckenpferd, dem sie gerade die Sporen gegeben hatte. Und mit einem Seitenblick nach links: „sowie Fetthenne und Klebsame!“ Es entstand eine kleine Pause, aber nichts geschah. Die Bombe platzte nicht, man hörte noch nicht einmal dezentes Ticken. „Sie kennen sich aber gut aus in Blumen!“ antwortete ihr Gegenüber artig.
Sie erkannte, dass es Knochenarbeit sein würde, diese beiden festgefressenen Kolben für den Nachhauseweg wieder flott zu kriegen. „Vielleicht wissen Sie auch in der Pflanzenheilkunde Bescheid? Meine Großmutter hatte immer Heilpflanzen im Garten: Kamille, Salbei, Fenchel, Augentrost, Ringelblumen und wie sie alle hießen!“ - „Wir hatten auch Kräuter im Garten: Suppenkräuter und Gewürze. Wenn wir krank waren gingen wir zum Arzt!“ antwortete Frau Weier trocken und sah ihre Nachbarin mit einem sprechenden Seitenblick an. Es entspann sich ein kleines Wortgefecht über diesen Punkt, bei dem noch offene Rechnungen jahrzehntelanger Nachbarschaft beglichen und die Gastgeberin völlig ausgeblendet wurde.
Sie hatte also Zeit ihre Gedanken abschweifen zu lassen und befand sich plötzlich in der Anfangsszene eines Monty Python Filmes, in der ein ungeheuer fettleibiger Gast eines Restaurants nach einem Viergänge Menu und etlichen Desserts im wahrsten Sinne platzt, nachdem er noch ein Sahnebonbon verzehrt hatte. Sein ausgebeinter Körper saß noch auf dem Stuhl, während seine Reste von den erlesenen Seidentapeten troffen…
Eine heftige Geste ihres Gegenübers wischte diesen Gedanken hinweg. „Spinnweben – wenn man nicht ständig hinterher ist…“ kam es erklärend über Frau Weiers durchtrainierte Lippen an die Adresse der Gastgeberin. „Altweibersommer – man kriegt sie einfach nicht los!“ lächelte diese zweideutig über den Tisch, und erhob sich, um noch etwas aus der Küche zu holen. Irgendwo mussten noch Sahnebonbons sein…sie suchte hastig an allen möglichen Orten…Es gab nur noch alte Pralinen von Ostern – egal, der Zweck heiligt die Mittel. „Darf ich Ihnen Pralinen anbieten?“ „Ach, wie nett, aber machen Sie sie nicht extra wegen uns auf!“ wehrte Frau Heber höflich ab, während ihre Nachbarin schon ihre knochigen Finger über der jetzt offenen Schachtel kreisen ließ. „Bei uns heißt es: Was wir auf den Tisch stellen, geben wir verloren!“ antwortete Frau Meier, der die Gastgeberin grinsend die zarten Blumengebinde der Tischdekoration näher rückte. Nur Frau Heber verstand den Scherz und lächelte verschmitzt, wobei sie mit Daumen und Zeigefinger nach einem Marzipanoval griff. „Marzipan esse ich am liebsten, mhhm, Marzipankartoffeln an Weihnachten!“ Dieses vollmundige Lob erging ersichtlich an Frau Weier …die sich jedoch ungerührt eine weitere Praline angelte. „Wenn sie nur nicht so dick machen würden!“ kommentierte Frau Heber die Geste ihrer Nachbarin mit einem blitzschnellen Verbündetenblick in Richtung Gastgeberin. „Man feiert ja nicht jeden Tag einen runden Geburtstag!“ erwiderte Frau Weier, welcher die Anspielung wohl doch nicht entgangen war, etwas pikiert. „Zum Glück, sonst würde man jeden Tag runder!“ konterte Frau Heber und griff fröhlich und zufrieden mit ihrer Schlagfertigkeit zu. - „Nun, meine Gesundheit leidet jedenfalls nicht darunter, ich kann es mir leisten!“ Gemächlich rührte Frau Weier die Kaffeesahne in ihre zweite Tasse Kaffee und beobachtete ihre Nachbarin aus dem Augenwinkel.
Im oberen Stockwerk hörte man wie der Fernseher eingeschaltet wurde – ihre Lieblingssendung würde sie also auch noch verpassen! Ambosswolken zogen auf – sie spürte sie deutlich Druck in der Magengegend.
Es war jetzt zwei Stunden, sechs Hefeschnecken und etliche Pralinen später und man war zu einem erklärten Lieblingsthema übergegangen: Krankheit, Siechtum und Tod gefolgt von kurzen Pausen beinharten Schweigens.
Wenn sie dies alles irgendwo gelesen und nicht erlebt hätte, hätte sie diese Situation als ziemlich verbrauchtes Klischee abgetan. Aber so saß sie mitten unter ihnen, war Teil dieser unendlichen Geschichte, den grauen Zeitfressern ausgeliefert.
Sie fühlte sich mehr und mehr zu einem Ohr werden, zu einem riesigen, fleischigen Ohr von den Haarspitzen bis zu den Fußnägeln – wenn sie noch länger hier sitzen bliebe, würden diese beiden Parzen sie dermaßen in ihre Welt einspinnen, dass sie sich zu solch einem Ohr entpuppte, zu deren Ohr, nur da, um deren Leben, Vergangenheit und Kranksein in sich aufzusaugen. Sie selbst existierte seit Stunden nur noch aus Gesprächshülsen: ‚Wie schade!’, ‚Ach ja?’, ‚Wie nett!’, ‚Zum Glück!’ …
Und wieder wurde sie unsanft in ihren Gedanken gestört: „Ist noch etwas Kaffee da? Nein? Ach, das macht nichts, lassen Sie nur, dann kann ich heute Nacht wenigstens schlafen.“ - „Ich kann ja noch Kaffee machen, so spät wird es ja nicht sein … was schon 18 Uhr? Meine Güte, wie die Zeit vergeht…! Da sollten man in der Tat keinen Kaffee mehr trinken!“ „Vielleicht sollten wir …“ versuchte Frau Heber den Rückzug anzutreten, aber sie wurde von Frau Weier unterbrochen: „Wenn Sie vielleicht ein Glas Wasser für mich hätten, Schokolade macht immer so durstig. Nur ein Glas Wasser, wenn es Ihnen keine zu große Mühe macht!“ - „Aber nein, wo denken Sie hin!“ Auf dem Weg zur Küche dachte sie an ein Erlebnis aus ihrer Kindheit: Sie hatte Cornflakes mit Milch gefrühstückt und ihre kleine weiße Maus knusperte mit Wonne etliche davon. Kurz danach verstarb sie: Ihr Magen war geplatzt, nachdem die Cornflakes im Magen aufgequollen waren.
„Oder darf ich Ihnen einen leichten Tee anbieten?“ – sie rechnete fest mit einer Ablehnung, sie selbst hätte es getan, jeder hätte es getan. „Ooooch – was für Tee haben Sie denn?“ und etwas leiser zu ihrer Nachbarin: „Ich möchte ja nur höflich sein!“ Im oberen Stockwerk wurde provozierend der Ton aufgedreht, Türen geöffnet und geschlossen, Schritte laut. Es wurde ungemütlich, aber man tat alles, um dies zu überhören. „Was haben Sie gesagt, ich konnte es nicht hören!“ – „Ich könnte Ihnen Hagebuttentee anbieten!“ Allein die rötliche Farbe war abstoßend, vom Geschmack und Geruch ganz zu schweigen. „Ach, ja! Hagebuttentee habe ich schon lange nicht mehr getrunken!“ – „Für mich bitte nichts mehr!“ beeilte sich Frau Heber zu versichern, wohingegen sich Frau Weier im Bewusstsein ihres Gastrechtes genüsslich zurücklehnte.
Sie hatte das Gefühl nie wieder aus der Situation herauszukommen, in eine Endlosschleife der Zeit geraten zu sein. Sie wollte nur noch, dass es aufhörte, irgendwie aufhörte!
Indem sie Wasser aufsetzte und die Teetasse aus dem Esszimmerschrank holte, fiel ihr Blick auf eine kleine Vase mit einem bescheidenen Sträußchen, die vor der Photographie ihrer Großmutter stand. Sie hatte es gestern bei einem Spaziergang mit dem Hund gepflückt und in die Vase gestellt - ohne Wasser. Jetzt hing es schlaff und müde herunter. Es waren die Lieblingsblumen ihrer Großmutter gewesen – Kronwicken. Ein kleiner zart lila-weißer Lippenblütler mit fein gefiederten dunkelgrünen Blättchen. Als Kind hatte sie diese Blümchen an sonnigen Wegrainen gepflückt, musste danach aber immer gut die Hände waschen. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht bei dieser Erinnerung, während sie sacht über die Blumen strich und sie mit in die Küche nahm, um sie zu versorgen. „Ich bin gleich soweit!“ rief sie den Gästen zu, indem sie das siedende Wasser in die Kanne goss. ‚Wenn ich mal nicht mehr kann, trinke ich Klepperlestee!’ hörte sie ihre Großmutter sagen. Es war für sie das berühmte Hintertürchen aus dem Leben, der Ausweg aus der Ausweglosigkeit! Sie hatte ihn nie gewählt – sich tapfer durchgeschlagen, war fast 90 Jahre alt geworden. Aber dieses Glück war eben nicht allen beschieden!
„Tee ist fertig!“
Angesichts der bedrohlichen Wolken eher ein unwirtlicher Ort. Vielleicht kommt mal wieder ein schönerer Tag. Das Bild aber ist schon sehenswert und spannend.
VG Ernst
da sitzen sie eng gekuschelt,nach geschlechtern fein säuberlich getrennt, in der kirche und beten wider den farberausch und kurze röcke. und zuweilen werden sie erhört und der liebe gott stülpt ein regengebiet über den ort.........
lg günter
Günter K. 07/10/2010 16:35
gibt's das auch als hörbuch ;-) ?Joachim Büchler 07/10/2010 16:34
Sehr schön!!Gruß Jo
Ingrid Sz 07/10/2010 13:04
angesichts grauschlei'rigen gewölksherz frohlocke
im erhaschen erdfarbig-starken gesteins
die glocke wissend gut gehüllt
in turmspitz zuströmender botschaft
ock'rig geführt
~
lieben gruß
IngriD
at.Heinz 07/10/2010 11:50
und jetzt hasste Schwielen anne Finger;)))lG1
Marina Luise 07/10/2010 11:27
Ulrike - wäre gut möglich! :))Bernd - na fein - dann treffen wir uns aber mal! :) Dabo kenne ich auch gut! :)
Myrrhine - hier ist er:
Abwarten und Tee trinken
Der 30. August war gewittrig und begann damit, dass sie Geburtstag hatte. ‚Den xte. von allen’, wie die Werbung eines bekannten Magenbitters, dachte sie mit schrägem Grinsen. Zum Glück hatte sie niemanden eingeladen. Normal, ruhig und unpathetisch sollte dieser Tag verlaufen und sie schonend davon abhalten, an ihr halbes Jahrhundert zu denken. Kein Gläserklingen, keine Reden und blöden Sprüche, kein Geduldhaben-, Mitlachen-, Ertragenmüssen.
Nur ihre Mutter war, wie jedes Jahr, einige Tage zu Besuch gekommen und hatte den traditionellen Familien-Hefekuchen, den sie sich gewünscht hatte, mitgebracht: Hefeschnecken mit Haselnussfüllung – eine echte Herausforderung für jeden Gebissträger und eine wahre Lektion der Selbstbeherrschung, denn man aß oder man atmete oder redete, aber es war nicht angezeigt beides gleichzeitig zu tun. Für den Gastgeber war dieser Kuchen gleichzeitig eine sehr sanfte Art jemandem das ‚Maul zu stopfen’. Wie oft hatten sie früher „Überfallgäste“, das war unliebsamer Überraschungsbesuch, der mit den freundlichen Worten „Aber bitte, greifen Sie doch zu, nehmen Sie doch noch ein Stückchen“ vorübergehend mundtot gemacht wurde. Ihr Großvater hatte seine Methode gefunden, ihn zu zähmen, er tunkte ihn in den Kaffee und er schmolz dahin – der Kuchen sowohl wie der Großvater! Aber das ging natürlich nur im engsten Familienkreis, alle anderen machten verbissen ihre Trockenübungen.
Sie hatten es sich im Garten hinter dem Haus bequem gemacht. Es war inzwischen schon 16 Uhr und der Tag war fast ‚vollbracht’, als in die friedvolle und entspannte Atmosphäre unschön der Haustürgong einbrach. Sofort schreckte der Hund auf, der den Kopf auf seiner Pfote, vor sich hingedöst hatte, gewiegt vom Geräusch ihrer Stimmen. Hysterisch bellend rannte er zur Gartenpforte, dass der Kies wegspritzte, und verwarnte dort sehr nachdrücklich die vermeintlichen Eindringlinge und Feinde. „Hast du jemanden eingeladen?“ fragte ihre Mutter. „Es weiß doch keiner – und die anderen wissen, dass ich nicht feiere!“ lautete die logische Antwort. Was tun? Sich taub stellen und einfach überhören? Angesichts des frenetischen Gebells war das eher etwas für starke Nerven und zumindest der Hund hatte welche! „Das können wir nicht machen…“ sagte ihre Mutter, die ihre Tochter auch ohne Worte verstand. Also - nachsehen.
Sie ging zur Gartenpforte. Dort standen sie – das Geburtstagskommando und sie fuhren scharfe Geschütze auf: Nett zurechtgemacht mit frisch gedauerwelltem Lockenhelm, angetan in altrosa und silbergrau, die eine pastos geschminkt, die andere mit starkem Altersdamenbart, standen sie da mit maskenhaftem Glückwunschgesicht und der unumstößlichen Gewissheit, Einlass zu bekommen. Vorsichtshalber hatten sich beide Nachbarinnen mit je einem floralen Passe par tout bewaffnet. Grenzenloses Erstaunen heuchelnd nahm sie Feindkontakt auf, kuschte den Hund zur Ruhe und öffnete die Gartentür: „Na so was, das ist aber eine nette Überraschung, kommen Sie doch herein! - Aber was ist das denn? – Was… für mich? ….aber woher wussten Sie denn? - Das ist aber wirklich nett!“ Die üblichen Sätze in Situationen, wo die draußen unbedingt reinwollen und die drinnen sich nicht trauen, diese nicht reinzulassen. Die Sprache ihres Herzens lautete in freier Übersetzung: ‚Oh nein, nicht die zwei, wer zum Teufel hat’s ihnen verraten, und was soll ich mit den zwei Friedhofsarrangements?’ Es hagelte Glückwünsche in stereo.
Mit einem Blick auf das ungeheuere Sitzfleisch der Gäste hatte ihre Mutter die Situation schon von weitem mit geübtem Blick erfasst: ‚Den restlichen Nachmittag konnte man vergessen’ und ging Kaffee kochen. Währenddessen schleuste die Tochter die dazugekommenen 165 Jahre durch den engen Hausflur ins Esszimmer, verstaute zwei sperrige Handtaschen und einen Gehstock an der Garderobe, schob Stühle zurecht, und bat „Platz zu nehmen“, dumpf ahnend, dass es sich hier eher um eine Landnahme handelte.
Bereits auf dem Weg ins Esszimmer wurde alles blitzschnell abgelichtet, sie hörte förmlich das Klicken bei jeder Augenbewegung ihrer Gäste. Nachdem man es sich geräuschvoll in sich zusammensackend auf den zierlichen Art-deco-Stühlen bequem gemacht hatte, erfolgte die Vorstellung: „ Darf ich Ihnen meine Mutter vorstellen, Mama, das sind meine reizenden Nachbarinnen, Frau Weier und Frau Heber. – Aber nein, um Gottes Willen, bleiben Sie doch sitzen!“ Nach überzeugend vorgetragenem Hin-und-Hergefreue über die neue Bekanntschaft und die nette Überraschung ging man über zur eingehenden Betrachtung der auf dem Esstisch abgestellten Schlüsselfiguren dieses Spiels, den erdschweren, voluminösen Blumenschalen: Rechts Geranien, keineswegs traurige wie bei Borchert, sondern aufdringlich fuchsienrote, ihrer erklärten Lieblingsfarbe, in trauter Zweisamkeit mit Plectranthus, der den Raum unangenehm verweihräucherte. Links eine Schale mit kirschroten Petunien umrahmt von Sanvitalia. Sie hasste alles ohne jede Bevorzugung: Den Friedhofsgeruch der Geranien, kirsch- und fuchsienrot und die schwüle Ausdünstung des Plectranthus, aber sie lobte die Zwergsonnenblumen, den schönen grün-weißen Fall des Plectranthus, die Nützlichkeit der Petunien, die regelrechte Läusefallen waren. Sie blieben in deren klebrig haarigen Blättern hängen und verendeten, ekelerregend und sinnlos.
Inzwischen hatte sie rasch den Tisch gedeckt und die ungetümen Blumenschalen als Tischzentrum zu ungeahnten Ehren gebracht. Der Kuchen lag nach stundenlanger Autofahrt und einem weiteren Tag altbacken, aber stimmig zum restlichen Ambiente auf den Tellern. Die Gäste saßen gleichsam attackebereit, hielten aber vorsichtig spähend, doch umsonst, Umschau nach einem Ausweichkuchen.
Ihre Mutter war nach oben gegangen und hatte das Feld unter fadenscheinigen Vorwänden geräumt. Aus der Küche hörte man nur das Fauchen des sehr behäbig durchlaufenden Kaffees. „Die Kaffeemaschine ist verkalkt, Sie müssen entschuldigen.“ – „Das kenn ich, bei mir ist es genau dasselbe!“ Die unfreiwillige Komik der Situation amüsierte sie, ‚man hört es aber nicht so!’, dachte sie und ihr heimliches Lächeln ging vom rechten bis zum linken Innenohr. „Wenn man sie regelmäßig entkalkt, halten sie länger!“ bemerkte Frau Weier spitz, worauf die Gastgeberin lieber nichts antwortete, noch nicht einmal in Gedanken…
Endlich konnte man den heiß ersehnten Kaffee eingießen, der sich im ersten Fall als zu heiß und im zweiten als zu stark entpuppte. Lautstark verbreitete man sich über seine Gewohnheiten, von denen man keinen Millimeter abrückte, sich dafür aber wortreich entschuldigte. „Aber wegen uns bitte keine Umstände!“ „Aber wo denken Sie denn hin (aus dem Alter bin ich zum Glück raus!)“ und schon war sie wieder in der Küche holte kalte Milch für den zu heißen Kaffee und setzte Wasser auf, um den „Herzkasperlkaffee“ zu „strecken“. Die Tatsache, dass sie jetzt in der Küche war und quasi nur von fern der Unterhaltung folgen konnte, verlieh den Gästen Flügel. Man schrie ihr Artigkeiten über den guten Geschmack der Einrichtung zu, wie man Hunden Knochen hinwirft. „Wie lange wohnen Sie jetzt schon hier, ach, doch schon so lange, aber es ist so, man wird nie fertig, es muss immer noch etwas renoviert werden. Meine Tapeten müssten auch mal wieder erneuert werden. Aber Ihre Möbel sind hübsch, solche hatte meine Schwiegermutter auch, aber dann hatte sie sich moderner eingerichtet, irgendwann konnte sie den alten Kram nicht mehr sehen. – Was sagen Sie, Resopalmöbel, keine Ahnung, sie hatte sich so Wandschränke gekauft, die verschiedenfarbige Türen hatten, wissen Sie. Hell und freundlich und gut sauber zu halten.“
Sie kehrte ins Esszimmer zurück, nun konnte man zum gemütlichen Teil übergehen. Der Kaffee war jetzt „so wie er sein muss“, das erste Stück Kuchen serviert, und aus bekannten Gründen entstand eine betriebstechnische Pause. Gespannt und mit unverhohlener Schadenfreude sah sie in die Gesichter ihrer Gäste, sah ihre vorschriftsmäßig geschlossenen Münder, ihre mahlenden Kiefer, ihre Konzentration. „Darf ich Ihnen noch ein Stückchen auftun? – Ein Päuschen! – sicher! – Noch eine Tasse Kaffee? Aber gerne! Und ein Glas Wasser, freilich, es ist heiß heute!“ Die Unterhaltung wurde so wieder flüssiger, umwob Themen wie Nachbarschaft, früher, heute. Beide umspannen ihren jeweiligen Lieblingsgegenstand, mal abwechselnd, mal parallel, wobei keine recht wusste, worüber die andere redete und nur einem inneren Drang zu gehorchen schien. Jede entlud sich, jede in eines der beiden Ohren ihrer Gastgeberin. Sie hörte schon eine Weile nicht mehr richtig zu, hatte es aufgegeben, sich an gewisse Gesprächsregeln zu halten, schaute immer öfter auf die Uhr und verteilte üppig Placeboantworten. Notbremse ziehen, durchfuhr es sie.
„Aber jetzt dürfen Sie mir nicht wieder eine abschlägige Antwort erteilen, Geburtstagskuchen darf man nicht ausschlagen!“, schimpfte sie gutmütig. Es gelang, man musste sich nötigen lassen. „Eins zu eins“ notierte sie hämisch in Gedanken. Sofort versiegte der Redestrom und wohlige Stille machte sich breit – leider nicht lange, denn inzwischen war man vorgeimpft. Ungeniert fuhr man fort auf seiner Zeitreise und die Erzählungen enthielten viel Pathos, viele Frikative und viel trockenen Hefekuchen – und sie saß immerhin gegenüber. So allmählich wandelte sich das Klima in Trockenklima, sogar ihr angeborener Humor verkrustete und bröckelte stückchenweise ab.
Die Zeit verging, aber sie schien endlos. Das dritte Stück Kuchen verklebte inzwischen die Zahnlücken der ihr gegenübersitzenden malmenden Gebisse, die Tischdecke erinnerte an die Technik des Pointillismus, Ekel beschlich sie. Automatisch drehte sie eine der Pflanzen nur um sich auf etwas anderes zu konzentrieren. „Ich sehe, Sie mögen diese Blumen genauso gern wie ich!“ sagte Frau Heber, „es sind meine Lieblingsblumen und welche gefallen Ihnen sonst noch?“ Ihr Blick glitt von den Pflanzen zu dem borstigen, schwarzen Damenbart. „Geißbart und Bartnelken“ entfuhr es ihr wie auf Knopfdruck, denn Botanik war ihr Steckenpferd, dem sie gerade die Sporen gegeben hatte. Und mit einem Seitenblick nach links: „sowie Fetthenne und Klebsame!“ Es entstand eine kleine Pause, aber nichts geschah. Die Bombe platzte nicht, man hörte noch nicht einmal dezentes Ticken. „Sie kennen sich aber gut aus in Blumen!“ antwortete ihr Gegenüber artig.
Sie erkannte, dass es Knochenarbeit sein würde, diese beiden festgefressenen Kolben für den Nachhauseweg wieder flott zu kriegen. „Vielleicht wissen Sie auch in der Pflanzenheilkunde Bescheid? Meine Großmutter hatte immer Heilpflanzen im Garten: Kamille, Salbei, Fenchel, Augentrost, Ringelblumen und wie sie alle hießen!“ - „Wir hatten auch Kräuter im Garten: Suppenkräuter und Gewürze. Wenn wir krank waren gingen wir zum Arzt!“ antwortete Frau Weier trocken und sah ihre Nachbarin mit einem sprechenden Seitenblick an. Es entspann sich ein kleines Wortgefecht über diesen Punkt, bei dem noch offene Rechnungen jahrzehntelanger Nachbarschaft beglichen und die Gastgeberin völlig ausgeblendet wurde.
Sie hatte also Zeit ihre Gedanken abschweifen zu lassen und befand sich plötzlich in der Anfangsszene eines Monty Python Filmes, in der ein ungeheuer fettleibiger Gast eines Restaurants nach einem Viergänge Menu und etlichen Desserts im wahrsten Sinne platzt, nachdem er noch ein Sahnebonbon verzehrt hatte. Sein ausgebeinter Körper saß noch auf dem Stuhl, während seine Reste von den erlesenen Seidentapeten troffen…
Eine heftige Geste ihres Gegenübers wischte diesen Gedanken hinweg. „Spinnweben – wenn man nicht ständig hinterher ist…“ kam es erklärend über Frau Weiers durchtrainierte Lippen an die Adresse der Gastgeberin. „Altweibersommer – man kriegt sie einfach nicht los!“ lächelte diese zweideutig über den Tisch, und erhob sich, um noch etwas aus der Küche zu holen. Irgendwo mussten noch Sahnebonbons sein…sie suchte hastig an allen möglichen Orten…Es gab nur noch alte Pralinen von Ostern – egal, der Zweck heiligt die Mittel. „Darf ich Ihnen Pralinen anbieten?“ „Ach, wie nett, aber machen Sie sie nicht extra wegen uns auf!“ wehrte Frau Heber höflich ab, während ihre Nachbarin schon ihre knochigen Finger über der jetzt offenen Schachtel kreisen ließ. „Bei uns heißt es: Was wir auf den Tisch stellen, geben wir verloren!“ antwortete Frau Meier, der die Gastgeberin grinsend die zarten Blumengebinde der Tischdekoration näher rückte. Nur Frau Heber verstand den Scherz und lächelte verschmitzt, wobei sie mit Daumen und Zeigefinger nach einem Marzipanoval griff. „Marzipan esse ich am liebsten, mhhm, Marzipankartoffeln an Weihnachten!“ Dieses vollmundige Lob erging ersichtlich an Frau Weier …die sich jedoch ungerührt eine weitere Praline angelte. „Wenn sie nur nicht so dick machen würden!“ kommentierte Frau Heber die Geste ihrer Nachbarin mit einem blitzschnellen Verbündetenblick in Richtung Gastgeberin. „Man feiert ja nicht jeden Tag einen runden Geburtstag!“ erwiderte Frau Weier, welcher die Anspielung wohl doch nicht entgangen war, etwas pikiert. „Zum Glück, sonst würde man jeden Tag runder!“ konterte Frau Heber und griff fröhlich und zufrieden mit ihrer Schlagfertigkeit zu. - „Nun, meine Gesundheit leidet jedenfalls nicht darunter, ich kann es mir leisten!“ Gemächlich rührte Frau Weier die Kaffeesahne in ihre zweite Tasse Kaffee und beobachtete ihre Nachbarin aus dem Augenwinkel.
Im oberen Stockwerk hörte man wie der Fernseher eingeschaltet wurde – ihre Lieblingssendung würde sie also auch noch verpassen! Ambosswolken zogen auf – sie spürte sie deutlich Druck in der Magengegend.
Es war jetzt zwei Stunden, sechs Hefeschnecken und etliche Pralinen später und man war zu einem erklärten Lieblingsthema übergegangen: Krankheit, Siechtum und Tod gefolgt von kurzen Pausen beinharten Schweigens.
Wenn sie dies alles irgendwo gelesen und nicht erlebt hätte, hätte sie diese Situation als ziemlich verbrauchtes Klischee abgetan. Aber so saß sie mitten unter ihnen, war Teil dieser unendlichen Geschichte, den grauen Zeitfressern ausgeliefert.
Sie fühlte sich mehr und mehr zu einem Ohr werden, zu einem riesigen, fleischigen Ohr von den Haarspitzen bis zu den Fußnägeln – wenn sie noch länger hier sitzen bliebe, würden diese beiden Parzen sie dermaßen in ihre Welt einspinnen, dass sie sich zu solch einem Ohr entpuppte, zu deren Ohr, nur da, um deren Leben, Vergangenheit und Kranksein in sich aufzusaugen. Sie selbst existierte seit Stunden nur noch aus Gesprächshülsen: ‚Wie schade!’, ‚Ach ja?’, ‚Wie nett!’, ‚Zum Glück!’ …
Und wieder wurde sie unsanft in ihren Gedanken gestört: „Ist noch etwas Kaffee da? Nein? Ach, das macht nichts, lassen Sie nur, dann kann ich heute Nacht wenigstens schlafen.“ - „Ich kann ja noch Kaffee machen, so spät wird es ja nicht sein … was schon 18 Uhr? Meine Güte, wie die Zeit vergeht…! Da sollten man in der Tat keinen Kaffee mehr trinken!“ „Vielleicht sollten wir …“ versuchte Frau Heber den Rückzug anzutreten, aber sie wurde von Frau Weier unterbrochen: „Wenn Sie vielleicht ein Glas Wasser für mich hätten, Schokolade macht immer so durstig. Nur ein Glas Wasser, wenn es Ihnen keine zu große Mühe macht!“ - „Aber nein, wo denken Sie hin!“ Auf dem Weg zur Küche dachte sie an ein Erlebnis aus ihrer Kindheit: Sie hatte Cornflakes mit Milch gefrühstückt und ihre kleine weiße Maus knusperte mit Wonne etliche davon. Kurz danach verstarb sie: Ihr Magen war geplatzt, nachdem die Cornflakes im Magen aufgequollen waren.
„Oder darf ich Ihnen einen leichten Tee anbieten?“ – sie rechnete fest mit einer Ablehnung, sie selbst hätte es getan, jeder hätte es getan. „Ooooch – was für Tee haben Sie denn?“ und etwas leiser zu ihrer Nachbarin: „Ich möchte ja nur höflich sein!“ Im oberen Stockwerk wurde provozierend der Ton aufgedreht, Türen geöffnet und geschlossen, Schritte laut. Es wurde ungemütlich, aber man tat alles, um dies zu überhören. „Was haben Sie gesagt, ich konnte es nicht hören!“ – „Ich könnte Ihnen Hagebuttentee anbieten!“ Allein die rötliche Farbe war abstoßend, vom Geschmack und Geruch ganz zu schweigen. „Ach, ja! Hagebuttentee habe ich schon lange nicht mehr getrunken!“ – „Für mich bitte nichts mehr!“ beeilte sich Frau Heber zu versichern, wohingegen sich Frau Weier im Bewusstsein ihres Gastrechtes genüsslich zurücklehnte.
Sie hatte das Gefühl nie wieder aus der Situation herauszukommen, in eine Endlosschleife der Zeit geraten zu sein. Sie wollte nur noch, dass es aufhörte, irgendwie aufhörte!
Indem sie Wasser aufsetzte und die Teetasse aus dem Esszimmerschrank holte, fiel ihr Blick auf eine kleine Vase mit einem bescheidenen Sträußchen, die vor der Photographie ihrer Großmutter stand. Sie hatte es gestern bei einem Spaziergang mit dem Hund gepflückt und in die Vase gestellt - ohne Wasser. Jetzt hing es schlaff und müde herunter. Es waren die Lieblingsblumen ihrer Großmutter gewesen – Kronwicken. Ein kleiner zart lila-weißer Lippenblütler mit fein gefiederten dunkelgrünen Blättchen. Als Kind hatte sie diese Blümchen an sonnigen Wegrainen gepflückt, musste danach aber immer gut die Hände waschen. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht bei dieser Erinnerung, während sie sacht über die Blumen strich und sie mit in die Küche nahm, um sie zu versorgen. „Ich bin gleich soweit!“ rief sie den Gästen zu, indem sie das siedende Wasser in die Kanne goss. ‚Wenn ich mal nicht mehr kann, trinke ich Klepperlestee!’ hörte sie ihre Großmutter sagen. Es war für sie das berühmte Hintertürchen aus dem Leben, der Ausweg aus der Ausweglosigkeit! Sie hatte ihn nie gewählt – sich tapfer durchgeschlagen, war fast 90 Jahre alt geworden. Aber dieses Glück war eben nicht allen beschieden!
„Tee ist fertig!“
Ulrike B. B. 07/10/2010 11:10
Dunkel war's, der Mond schien helle ... usw.Jetzt weiß ich wenigstens, woher das Gedicht stammt, aus dem Elsaß natürlich ... :-)))
LG, Ulrike
Marina Luise 07/10/2010 9:58
Ernst - das täuscht, glaub' mir ausnahmsweise mal! ;)http://www.google.de/images?hl=de&q=eguisheim+elsass&rlz=1W1TSEH_frFR376&um=1&ie=UTF-8&source=univ&ei=In2tTMCHG9WW4gbSn_X1Bg&sa=X&oi=image_result_group&ct=title&resnum=5&ved=0CDoQsAQwBA
Tassos - am Näschen! :)
Tassos Kitsakis 07/10/2010 9:54
@Marina: ...und, nachts sind alle Katzen grau, mit etwas rot ;-)Ernst Seifert 07/10/2010 9:38
Angesichts der bedrohlichen Wolken eher ein unwirtlicher Ort. Vielleicht kommt mal wieder ein schönerer Tag. Das Bild aber ist schon sehenswert und spannend.VG Ernst
Marina Luise 07/10/2010 9:31
Tassos - und Goethe haucht: "Mehr Licht!" :))Norbert - mich hat's auch eher ernüchtert! ;)
Günter - das gibt's noch in manchen Dorfkirchen! :)))
Da hat's der liebe Gott aber sehr gut mit dem Elsass gemeint in diesem Jahr! :))
Günter K. 07/10/2010 9:30
da sitzen sie eng gekuschelt,nach geschlechtern fein säuberlich getrennt, in der kirche und beten wider den farberausch und kurze röcke. und zuweilen werden sie erhört und der liebe gott stülpt ein regengebiet über den ort.........lg günter
Norbert REN 07/10/2010 9:23
So früh am Morgen kann ich so einen Rausch noch nicht vertragen.Kein Bier vor Vier !
LG, Norbert
Tassos Kitsakis 07/10/2010 9:20
Darin halten Goethe, Albers und Itten Sitzung.Marina Luise 07/10/2010 9:17
Roland - bei dem Sommerwetter guter Laune zu bleiben - war auch eine! ;)Klaus - danke dir! ;)
Uli - *gg* 'Feigling'! :))
Richard - vor allem kriegt man Genickstarre! :)
1 - nee du, die wohnen in grösseren 'Städten'! :)
Wolfgang - äh - danke! :))
Martin - freut mich! :)
Netti - danke dir ebenfalls ;)- hier sieht's eher nicht so aus! :\
limited edition 07/10/2010 9:12
Der Farbrausch hält sich dezent im HG :))
Einen berauschenden Tag wünscht dir Netti