das Formen- und Farbenspiel
der anderen beiden verlinkten Fotos
übt auf mich eine starke Anziehungskraft
aus. Es liegt an dieser Verbindung von
Formen- und Farbenspiel,
daß mich diese Details und sozusagen
der gezeigte Minimalismus überaus begeistert
und visuell fast noch mehr ansprechen
als das Hauptfoto.
Ein wunderschönes Beispiel
romanischer Bauweise, liebe Kerstin,
In dieser Farbeinheit läßt einen das
Foto innehalten und man begibt sich
gedankenvoll in dieses Bild und damit
in eine große Ruhe.
aber höchstinteressiert hat Herr M,
Deine / bzw. diese Abhandlung gelesen
- und (zugegeben) zur Gotik einen neuen
Zugang gefunden;
Danke an Herrn M. !
;-)
Michael
Lieber Adrian, ein Superweitwinkel schafft nun mal andere Bilder, als sie das menschliche Auge sieht.
Abgesehen davon ist es in der Krypta des Merseburger Doms stockdunkel; das Einzige, was man sieht, ist das Fenster in der Mitte. In dieser Dunkelheit die Kamera auszurichten, ist selbst mit Wasserwaage nicht so einfach. Und ein hundertprozentig symmetrisches Foto kommt bereits deshalb nicht heraus, weil die Krypta nicht perfekt symmetrisch angelegt ist.
Was die geistliche Bedeutung der Krypta betrifft, kann ich mich nach wie vor mit dem oben zitierten Postulat von der Krypta als Ort der Innewerdung nicht recht anfreunden. Ich denke, bis auf weiteres bleibt es dabei, was auch W. Ikipedia sagt: "In der Krypta befanden sich anfänglich entweder das Grab oder die Reliquie eines Märtyrers, was neben der heilsspendenden Wirkung auf in der Nähe Bestattete auch Pilger von außerhalb anziehen sollte." Ein Vortrag über die Technik der Einbalsamierung im Mittelalter, den ich vor kurzem hörte, hat mir wieder einmal gezeigt, wie wichtig dem Mittelalter die stoffliche Realpräsenz der Überreste eines Herrschers oder Heiligen war.
Ansonsten kommt man in der Krypta in der Tat zur Ruhe gegenüber dem Getriebe der Welt; das ist unbestreitbar. Das hier gezeigte Bild ist unglaublich hell, in der Krypta ist es aber in Wirklichkeit so dunkel, dass man durch den Sucher der Spiegelreflex genausowenig sieht wie mit bloßem Auge, nämlich fast nichts.
Allerdings waren die Kirchenbauten tatsächlich symbolhaft aufgeladen, wie das vor allem für die Gotik erforscht worden ist. Aber die Gotik ist es eben auch, die die Heiligengebeine aus der Krypta holt und im Altarraum ansiedelt:
Die Symbolkraft der Gotik
• Vorbemerkung
• Die Betonung des Vertikalen
• Immanenz und Transzendenz werden ganzheitlich gedacht
• Die mystische Erfahrung als Reaktion auf das Zeitgeschehen
• Die gotische Kathedrale als Ewigkeitsraum
• Die gotische Kathedrale als mystischer Leib Christi
• Die Fortschritte der Baukunst – Basis für die Symbolik der Gotik
• Die Schaufrömmigkeit zur Zeit der Gotik
• Die andere Gotik: Bettelordenskirchen
•
Vorbemerkung
Der nachfolgende Artikel ist eine leicht veränderte Wiedergabe des vom Autor stammenden Artikels “Den Himmel berühren” in dem Buch “Bieger, Blome, Heckwolf (Hg.), Schnittpunkt zwischen Himmel und Erde - Kirche als Erfahrungsraum des Glaubens”, Verlag Butzon und Bercker, Kevelaer 1998. Dieses Buch versucht, die spirituellen und symbolischen Schätze der Kirchen für das heutige Lebensgefühl zu erschließen und will anregen, diese Schätze für die Glaubensverkündigung zu nutzen.
Über die Jahrhunderte hinweg ist der abendländische Kirchbau eine öffentliche Proklamation des christlichen Glaubens. Im Kirchbau spiegeln sich sowohl die Entwicklungen der Baukunst und der Architektur als auch die Spiritualität und das religiöse Lebensgefühl der jeweiligen Epochen wider. Dies gilt in ganz besonderer Weise für die Gotik, die nach 1130 in Frankreich ihren Ausgang nahm und sich nach und nach über weite Teile Europas hin ausbreitete. Selbst in Spanien und Italien, wo man sich mit der Baukunst der Gotik nicht so recht anfreunden konnte, finden sich - wenn auch in geringerer Zahl - bedeutsame Bauwerke dieser Stilrichtung. Die Gotik bringt die große Kreativität des 12. Jahrhunderts zum Ausdruck, die auf den verschiedensten Gebieten, angefangen von neuen Gattungen in der Literatur über das Zusammendenken von Philosophie, systematischer Theologie und Naturwissenschaft bis hin zum Entstehen des Minnegesangs und der Mystik, zu großen Erneuerungen führt. Der schöpferische Aufschwung des 12. Jahrhunderts gibt der mittelalterlichen Entwicklung, die oft vorschnell als globale Einheit gesehen wird, eine epochale Wende. Mit diesem Wandel geht auch ein Wandel im religiösen Fühlen und Verhalten einher, ohne das der gotische Kirchbau nicht zu verstehen ist.
Die Betonung des Vertikalen
Die Verankerung des Lebens in der Transzendenz war für den mittelalterlichen Menschen selbstverständlich. Findet diese Verankerung in der Romanik noch ihren Ausdruck im Gedanken der himmlischen Gottesburg, die Schutz vor den Mächten des Untergangs mitten in dieser Welt versprach, so ist es in der Gotik ein neues Motiv. Der gotische Kirchbau greift die Grundidee des himmlischen Jerusalems, die den christlichen Kirchbau von seinen Anfängen beherrschte, auf, stellt es jetzt aber als Himmel dar, der sich in seiner ganzen Fülle auf die Erde niederstreckt und gleichzeitig über sie erhebt. Die Bauten wachsen in eine bis dahin nicht vorstellbare Höhe. Die vertikale Linie wird über alle menschliche Maße hinaus gesteigert. Durch die Verwendung von Spitzbögen an Stelle der in der Romanik vorherrschenden Rundbögen wird sie in ihrer Wirkung noch verstärkt. Man wagt sich an Grenzen heran, wie sie statisch damals gerade noch denkbar waren, teilweise geht man sogar über sie hinaus. In Beauvais, wo der Chor fast 47m und das südliche Querhaus sogar 48,5m Höhe mißt, ist das Gewölbe mehrfach eingestürzt, weil man es statisch nicht mehr beherrschen konnte. Auch in anderen gotischen Kathedralen sind Höhen von über 35m keine Seltenheit, z.B. in Chartres mit 36,6m , in Amiens mit 42,3m oder in Köln mit 43,4m.
Die Spannung von Transzendenz und Immanenz, von Jenseits und Diesseits, beschäftigt den religiösen Diskurs zu allen Zeiten. Diese Frage gehört zu den existentiellen Grundfragen der Menschen. Die Gotik beantwortet sie mit dem “Sursum corda” - dem “Erhebt-die-Herzen”, nicht mehr mit dem sich demutsvollen Einfügen in die kosmologische Ordnung, wie es noch die Romanik tat. Im irdischen Leben schon ein Stück Himmel erfahren und doch gleichzeitig zu spüren, daß dieser Himmel alles Irdische bei weitem übersteigt - das prägt die Symbolkraft des gotischen Kirchbaus. Der Mensch begreift seine Endlichkeit, wenn er sich selbst übersteigt im Über-sich-hinaus-Sein. Im Ausgerichtet-Sein auf Transzendenz erfährt er Sinn. Die spannungsvolle Balance zwischen Transzendenz und Immanenz wird in diesen Erfahrungshorizont gestellt. Die gotische Kathedrale steht dafür als öffentliches Symbol und bestärkt die Plausibilität dieses Glauben: Architektur wird zu Stein gewordenem Sinn, zur Symbolik, die die beiden Wirklichkeitsebenen von Transzendenz und Immanenz zusammenfügt und so das rein Funktionale übersteigt!
Immanenz und Transzendenz werden ganzheitlich gedacht
Das Zusammendenken der beiden Wirklichkeitsebenen ist nicht neu, neu ist aber, daß dies im 12. und 13. Jahrhundert mit einer alle Bereiche des menschlichen Lebens erfassenden Suchbewegung nach Ganzheitlichkeit verbunden ist. Die Suche nach dem Sinn der Offenbarung in der Hl. Schrift und in der Schöpfung wird nicht mehr statisch verstanden, die Welt wird nicht mehr heilsgeschichtlich-typologisch gedeutet, sondern als dynamischer Prozeß. Angesichts der Erfahrung, daß die irdische Ordnung, die in den Jahrhunderten zuvor wie selbstverständlich als Teil und Spiegel der gottgewollten kosmischen Ordnung geglaubt wurde, zu zerbrechen droht, setzt auf allen Gebieten die Suche nach Einheit und Ganzheit ein. In der Scholastik werden Naturwissenschaft, Philosophie und dogmatische Theologie als eine einzige große Wissenschaft zusammengedacht. Der Ritterroman ist davon geprägt, den Helden als Verkörperung eines nach gott- und weltgefälligem strebenden Humanitätsideal darzustellen. Die Mystik weiß sich vom Gedanken der Einung des Menschen mit Gott getragen. Und in der Schrifterklärung weichen die Wort-für-Wort-Interpretationen einer ganzheitlich-geistigen Sichtweise.
Diese Suche nach Ganzheitlichkeit schlägt sich auch in der Architektur nieder. Die Herausarbeitung von Zyklen an Stelle von Einzeldarstellungen werden in der Kathedralplastik bestimmend, und der Kirchenraum wird in einen mystischen Raum verwandelt. Die Wände verlieren an Materialität, sie werden dünner und mit großen Fenstern durchbrochen. Es werden Glasflächen mit vornehmlich blauen, rötlichen und goldfarbenen Tönen eingebaut. Ein bläulich-violettes, gleichsam ein mystisches Licht erfüllt den Raum. Die Wirkung wird noch verstärkt, indem man die Wände und die Säulen bemalt, oft in rotbraunen Tönen, und nicht selten werden Edelsteine und Kupferfäden in die Fenster integriert, um eine besondere, “mystische Lichtbrechung” zu erreichen. Die Säulen werden gebündelt und verlieren so ihre Mächtigkeit. Die gesamte Architektur ist davon bestimmt, den Himmel sinnenhaft erfahrbar zu machen. Ein Beispiel für die Entmaterialisierung und die Betonung des Sinnlichen ist Ste. Chapelle in Paris, eine Kleinform der gotischen Kirchbauweise. Dort sind die Fensterflächen so groß, daß die Wände aus Stein völlig zurücktreten. Sie sind auf das absolut notwendige statische Minimum reduziert. Kein Stein dürfte fehlen, sonst würde das Gebäude einstürzen.
Die mystische Erfahrung als Reaktion auf das Zeitgeschehen
Die Betonung des Mystischen und der Ganzheitlichkeit ist die Reaktion auf bittere existentielle Erfahrungen. Konflikte, Kriege, Seuchen und Pest ließen zunehmend eine Skepsis gegenüber der irdischen Ordnung und irdischen Welt aufkommen. Hinzu kommt, daß sich in der Zeit der Gotik das Zerbrechen der “Zwei-Schwerter-Lehre” ankündigt. Die Lehre von den zwei Gewalten, mit deren Hilfe man das Verhältnis von weltlicher und geistlicher Macht zu bestimmen versuchte, hat zwar über die Jahrhunderte hinweg immer wieder zu Kämpfen und Konflikten geführt, doch der Grundsatz, daß sowohl der Kaiser als auch der Papst und die Bischöfe Schützer von Religion und Kirche zu sein haben, war nicht bestritten. Lange stand der Kaiser im Rang eines Diakons, die Kaiserkrönung hatte sakralen Charakter. In ottonischer Zeit hat man dem Kaiser im Westchor einen eigenen Altar eingerichtet. Er als Beschützer der Kirche bekam auch symbolisch in großen Kathedralkirchen einen Platz. Die Gläubigen im Kirchenschiff zwischen Ost- und Westchor wurden sozusagen beschützt von der weltlichen und der geistigen Macht. Doch nach Canossa 1122, ist diese Grundüberzeugung, daß neben der geistigen Macht auch der Kaiser Schützer der Kirche sei, immer mehr desavouiert worden. Dem Kaiser wurden nach und nach Eingriffe in kirchliche Entscheidungen abgesprochen und seine besondere Stellung als “gesalbter” Diakon bestritten. Als Antwort auf diese Erfahrung der brüchig werdenden irdischen Ordnung setzt sich die mystische Schau, die spirituelle Erfahrung der vollkommenen himmlischen Ordnung in der Begegnung mit Gott durch. Das religiöse Lebensgefühl, das stark an einer “objektiven” Weltordnung ausgerichtet war, in die sich der einzelne einzufügen hat, wird ergänzt und teilweise abgelöst durch eine “subjektive”, nach innen gerichtete Spiritualität. Christus in der heiligen Schau zu begegnen, seine Größe und Vollkommenheit zu erfahren und sich mit ihm zu vereinigen ist Antwort auf die Kontingenzerfahrungen im Alltag. Im Kathedralbau als mystischem Raum spiegelt sich diese Spiritualität.
Eine ganz besondere spirituell-symbolische Dimension, die bisher kaum beachtet wird und erst in Ansätzen erforscht ist, erhält der gotische Kirchbau durch die großen Mystiker der Zeit wie Hildegard von Bingen, Adam dem Schotten, Joachim von Fiore und Hugo von St. Viktor. Ihre mystische Schau in Ganzheiten bewegt sie, das Geschaute nicht nur in Worten, sondern auch mit einem Bild auszudrücken. Diese Bilder versuchen durchweg, das Universum als ganzes darzustellen. Bekannt und gut erhalten ist etwa Hildegards Ewigkeits-Zeiten-Rad, das den gesamten Heilsgeschichtskosmos darstellt von der Zeit vor der Schöpfung bis zum Jüngsten Gericht, umgeben von den Händen Gottes. Gott, der Ewige, hält in diesem Bild Raum und Zeit zusammen. Ein ganz ähnliches Motiv enthält das Bild und die dazugehörige Beschreibung der Arche Noahs von Hugo von St. Viktor. Dieses Bild dürfte auf den Kirchbau eine noch entscheidendere Wirkung ausgeübt haben. Das Bild selbst liegt uns heute zwar nicht mehr vor, jedoch die beschreibende Erklärung. Dort bezeichnet Hugo von St. Viktor die Arche als einen Ort der Fülle, an dem die Werke des Heils vom Beginn der Welt bis an ihr Ende vollzählig versammelt sind. Das Verborgene, das, was der Mensch nur ahnen kann, wird im Bild der Arche offenbar, die der vergänglichen Welt entgegengestellte unvergängliche Welt wird sichtbar. Die vergängliche Welt wird von der größeren unvergänglichen Welt umfaßt. Diese unvergängliche umfassende Welt ist - so Hugo von St. Viktor - mit den Augen des Herzens zu schauen. Im Bild der Arche versammelt sich das Vergangene und Zukünftige. Der gesamte Prozeß der Geschichte wird in einem einzigen Bild zusammengefaßt, und so die Abfolge der Zeit in Gleichzeitigkeit verwandelt. Die gegenwärtige Welt wird aufgehoben in der ewigen Welt. Die Kategorien von Zeit und Raum werden in diesem Bild überwunden, die gesamte (Heils-)Geschichte wird im Bauwerk der Arche zur bleibenden Gegenwart. Dabei symbolisiert die Länge der Arche die Zeitachse, die Breite bringt die Kategorie des Raumes zum Ausdruck, und die Höhe stellt die Werteordnung dar. Der gesamte Kosmos wird im Bauwerk der Arche erfaßt und gibt so dem Menschen die Möglichkeit, das zu schauen, was sonst eigentlich nur Gott schauen kann. Die Arche wird sozusagen als Mikrokosmos geschaut, in dem sich der universale Kosmos abbildet und in dem Vergangenheit und Zukunft in einem Bild zur Gleichzeitigkeit zusammenfallen. Die innere Schau gibt dem Menschen den Blickwinkel Gottes, der gleichsam von “außen” die Heilsgeschichte in ihrer Gesamtheit überblickt.
Die gotische Kathedrale als Ewigkeitsraum
Das, was Hugo von St. Viktor am innerlich geschauten Bild vom Bauwerk der Arche festmacht, überträgt die gotische Architektur auf den Kirchbau. Friedrich Ohly bezeichnet deshalb die gotische Kathedrale als Zeitenraum und zeigt am Beispiel vom Dom von Siena, wie in einem einzigen Kirchenraum symbolisch die Simultanität der gesamten Heilsgeschichte und Werteordnung erfaßt und für den Gläubigen erlebbar wird. Obwohl man südlich der Alpen den Begriff der Gotik eher abwertend verstand und man diesem Baustil wenig abgewinnen konnte, sind die in diesem Baustil errichteten Kirchen hervorragende Zeugen für die geistig-spirituellen Grundlagen. In Siena konnte man auf die seit der Antike in Italien verbreitete Tradition der Mosaikfußböden zurückgreifen und sie in den dortigen Dom integrieren. Man ist dabei aber von der sonst üblichen Ornamentik des Mosaikfußbodens abgewichen und hat ein einzigartiges Bildprogramm verwirklicht. Gerade in diesem Mosaikfußboden zeigt sich der Versuch einer ganzheitlichen heilsgeschichtlichen Schau, die die irdischen Grenzen von Raum und Zeit sprengt und die Weltgeschichte zum Weltbild werden läßt.
Wie in Hugo von Viktors geschauter Arche die Länge als Zeitenachse gedeutet wird, so symbolisiert in Siena die Länge des Fußbodens den Verlauf der Heilsgeschichte. Schon der Marmor des Fußbodens, ein Werkstoff, der auch den Fußboden des Tempels Salomons zierte, erinnert an die Fundamente, auf denen die Kirche als Gemeinschaft von Gläubigen steht.
Das Bildprogramm des Fußbodens beginnt auf dem Vorplatz mit Szenen aus der Vorgeschichte des Christentums, der Darstellung eines Tempels, dem Juden und Zöllner, nach neutestamentlichem Verständnis Heiden, zugewandt sind, und mit der Darstellung der Opferung eines Widders auf dem Altar. Diese Vorgeschichte setzt sich im Innern der Kirche mit der Darstellung von ägyptischen Sphinxen fort, die auf den Empfang der Schriften und Gesetze warten, sozusagen als Vorläufer des Mose, der das Gesetz aus der Hand Gottes erhielt. Im weiteren Gang hin zum Altar folgen Darstellungen, die auf Rom als dem Zentrum der Welt und auf Griechenland als dem Ort der Weisheit hinweisen. Im Fußboden der Seitenschiffe ergänzen Sibyllen das Bildprogramm. Sie stehen für Lybien, Phrygien, Persien und andere Länder. In die Breite gehend werden die Weltenräume erfaßt. Die ganze damalige Welt mit ihrer Geschichte wird zum verdichteten Hinweis auf Jesus Christus, der im Altar symbolisiert gegenwärtig ist.
Im Querhaus und auf der Fläche zwischen Langhaus und Altar füllen Szenen der Propheten und des Alten Testaments den Fußboden. Auf die heidnische Geschichte folgt die Geschichte der Juden. Der Besucher durchschreitet auf den Fundamenten seiner Väter und Mütter gehend die gesamte räumliche Welt und die gesamte Geschichte, die ihn zum Altar, zu Christus selbst, hinführt und ihn diese Geschichte als Teil der Heilsgeschichte erfahren läßt. Auf diesen Fundamenten gehend, überhebt sich über ihm der Himmel, das ewige Jerusalem, das keinen Raum und keine Zeit mehr kennt.
Eingetaucht in das durch die Fenster strahlende mystische Licht, darf der einzelne in diesen Himmel eintreten und symbolisch-sinnenhaft, letztlich in der mystischen Schau, schon jetzt Christus begegnen, der seinem Leben Sinn, Richtung und Ziel gibt. In diesem himmlisch-mystischen Welten- und Zeitenraum hat der einzelne aber nicht nur als Individuum seinen Platz, sondern auch als Bürger einer sozialen Ordnung, die sich in gotischen Kathedralen in Form von Kapellenkränzen um den Altarraum und in vielen Seitenkapellen für die unterschiedlichen Zünfte spiegelt.
Die gotische Kathedrale als mystischer Leib Christi
Die Suche nach Ganzheitlichkeit und Betonung des Sinnlichen und Übersinnlichen, die den Verstand übersteigende Begegnung des Menschen mit der göttlichen Unendlichkeit, schlägt sich beim gotischen Kirchbau oft auch im Grundriß nieder. Die Achse macht nicht selten einen Knick. Der Altarraum steht leicht schräg zum Kirchenschiff. Die gesamte Kirche mit ihrem kreuzförmigen Grundriß symbolisiert den hingestreckten, mystischen Leib des gekreuzigten Christus. Der Altarraum ist das geneigte Haupt, das Querhaus entspricht den ausgestreckten Armen, und der Eingangsbereich symbolisiert die Füße. In den Körper hinein wird die Weltordnung abgebildet, in der auch die Gläubigen als Glieder am Leib Christi im Kirchenschiff ihren Platz haben. Das Trudperter Holeto um 1160, ein frühmittelhochdeutsches Hohes Lied, deutet den Körperaufbau so, daß das Haupt die Trinität symbolisiert, der Leib die Kirche der Gegenwart, die Beine und Füße die Zeit bis zum Auftreten des Antichristen und bis zum Jüngsten Gericht. Nach dieser symbolischen Vorstellung hat das Jüngste Gericht am “Fußende” der Kirche seinen Platz. Deshalb sind die Tympana mit den Szenen des Weltgerichts meist über den Westportalen, dem Altarraum gegenüberliegend, angebracht.
So verbindet sich die christologisch-theologische Dimension mit der geistig-sinnlichen Erfahrung. Die Kirche wird zur “Wohnung Gottes unter den Menschen” (Offb 21,3) und zur himmlischen Stadt Jerusalem, in der die Menschen schon jetzt “göttlich” leben können. Auch das Rosettenfenster, das typisch für die gotische Kathedrale ist, deutet diese Wirklichkeit an. Es steht für Christus, dessen Glanz die himmlische Stadt Jerusalem erleuchtet.
Die Fortschritte der Baukunst – Basis für die Symbolik der Gotik
Um diese Vergeistigung des Kirchenraums zu ermöglichen, waren Fortschritte in der Baukunst und eine neue Bautechnik Voraussetzung. Um die Wände zu stützen, bedurfte es der Strebewerke, die man nach außen baute. Erst dadurch wurde es möglich, die Wände dünner zu machen und mit großen Fenstern zu öffnen. Gleichzeitig war die Entwicklung einer neuen Gewölbetechnik erforderlich. Die alten schweren Tonnengewölbe mußten durch eine leichtere Konstruktionsweise ersetzt werden. Die Erfindung des Kreuzrippengewölbes, das zum Kennzeichen des gotischen Kirchbaus wird, macht es möglich, die statischen Lasten zu reduzieren und über verhältnismäßig dünne Wände in Verbindung mit entsprechenden Strebewerken in die Fundamente abzuleiten. Symbolisch kann das Gewölbe mit seinem Netzwerk jetzt die Strukturen des gewölbten Himmels abbilden.
Darüber hinaus entwickelte man die in früheren Epochen bereits gekannte Idee, Außenwände durch angebaute Seitenschiffe zu stützen, konsequent weiter. Man beließ es nicht bei den statisch notwendigen und nach außen gebauten Strebewerken, sondern verband die Notwendigkeit der Abstützung mit dem der Zeit entsprechenden Frömmigkeitsgefühl. Die Betonung der mystischen Schau, der daraus resultierenden Individualität und Subjektivität führte zu einer Privatfrömmigkeit, die sich in einer Vielzahl von Altären und Kapellenkränzen um den Chor herum niederschlug. Dort stellte man Reliquienschreine auf, dort konnten Menschen “ihre” Heiligen verehren und die Zünfte ihre Gottesdienste und Feste feiern. Die Volksfrömmigkeit wird immer mehr zur Privatfrömmigkeit, und in der Liturgie verstärkt sich die bereits in der ottonischen Zeit aufgekommene Trennung zwischen Kleriker- und Volksliturgie. In Bischofskirchen und großen Klosterkirchen werden teilweise sogar Chor und Kirchenschiff durch einen Lettner, einen bühnenartigen Aufbau am Ende des Chores oder nach dem ersten Joch des Langhauses, getrennt.
Die Schaufrömmigkeit zur Zeit der Gotik
Die Vermehrung der Seitenkapellen und Altäre konnte auf eine Tradition zurückgreifen, die bereits in Klosterkirchen der Karolingerzeit entwickelt wurde. Auch dort gab es neben dem Hauptaltar weitere Altäre im Kirchenraum. Die Idee dazu entsprang damals aber nicht dem Interesse der Förderung der Privatfrömmigkeit, vielmehr wollte man ein Abbild von Rom schaffen. Als in den ersten Jahrhunderten die Zahl der Christen erheblich wuchs, hat man in Rom nicht nur in der Hauptkirche Gottesdienste gefeiert, sondern auch sogenannte Stationsgottesdienste in vielen anderen Kirchen. Um deutlich zu machen, daß es dabei stets um die eine große Liturgie ging, gab es den Brauch, gebrochene Hostienteile aus der Hauptkirche in die Außenkirchen zu bringen. Es sollte symbolisch zum Ausdruck gebracht werden, daß es bei allen Eucharistiefeiern um das eine große Opfer Jesu Christi geht, auch wenn es räumlich getrennt gefeiert wurde. Dieser Gedanke der einen großen Liturgie in Verbindung mit den Stationsgottesdiensten in anderen Kirchen, wurde in den Klosterkirchen aus karolingischer Zeit durch die Vermehrung der Altäre in einem Raum symbolisch aufgegriffen. Daran hat später die Romanik und vor allem die Gotik angeknüpft, die Symbolik der vielen Altären jetzt aber inhaltlich neu gefüllt. Der Akzent liegt nicht mehr auf der Einheit der Liturgie in differenzierter Form, sondern in der Pflege privater Frömmigkeit und in der Quantifizierung der Gnade durch Vermehrung der “Winkel”-messen: Ein Prozeß, der mit der Trennung zwischen Klerikerliturgie und Volksliturgie einhergeht.
Geprägt ist die mittelalterliche Frömmigkeit sehr stark durch die Erfahrung einer in Folge von Krieg und Seuchen heillos erscheinenden Welt. Die schreckliche Konfrontation mit dem Tod, die brüchig werdende politische und soziale Ordnung führen Ende des 11./Anfang des 12. Jahrhunderts zu einer nie dagewesenen Reliquienverehrung und zu einem kaum vorstellbaren Wallfahrtswesen. Hunderttausende pilgerten jedes Jahr nach Santiago de Compostela. Der Weg dorthin führte über viele Stationen, Kirchen mit besonderen Reliquien, in denen man Halt machte und auch übernachtete. In einer vom Totentanz beherrschten Menschheit macht sich das Gefühl des nahenden Weltuntergangs breit, die Menschen suchen nach Fürbittsprechern für ihr Seelenheil. Diese Gefühle und Stimmungen schlagen sich am Ende der Romanik und dann vor allem in der Gotik im Kirchbau nieder. Die in der Romanik entstehenden Emporen oberhalb der Seitenschiffe, die zum größten Teil zur Aufnahme der Pilger dienten, tragen in der Gotik mit dazu bei, daß sich die Wände auflösen, gegliedert werden und eine ganz neue Raumatmosphäre entsteht. Als zweite wichtige Änderung setzt sich in der Gotik durch, daß die Reliquien nicht mehr in der Krypta bzw. in der Confessio, einem Märtyrergrab unmittelbar unter dem Altar, verbleiben. Sie werden jetzt in den Kirchenraum geholt und in Reliquienschreinen aufbewahrt.
Die tiefe innere, die mystische Schau, die sich in der Symbolkraft der gotischen Architektur niederschlägt, verbindet sich mit der äußeren Schau. Was mit der Reliquienverehrung beginnt, setzt sich später in der Schaufrömmigkeit während der heiligen Messe, im Aufkommen der Fronleichnamsprozessionen nach 1200, in Meßfeiern zum ausgesetzten Allerheiligsten u.ä. fort. Auch wenn die Grenzen zwischen einer echten mystischen Frömmigkeit und einer veräußerlichten Schaufrömmigkeit, nicht selten verbunden mit einem auf Geldsammeln angelegten Ablaßwesen, fließend werden, so darf doch nicht übersehen werden, daß die unmittelbare Erfahrung mit Tod und Krankheit im Mittelalter eine andere war als heute. Die Gotik ist ohne diese Erfahrung des mittelalterlichen Menschen kaum zu verstehen. Die gotische Kathedrale gibt inmitten dieser vom Tod gezeichneten Welt die Gewißheit, daß es einen Himmel gibt, daß der Mensch Heil und Erlösung erfährt und die Kontingenzerfahrung eines irdischen Lebens hinter sich läßt. Dafür steht die gotische Kathedrale. In den Tympana über dem Eingang, meist über dem Westportal, sind deshalb auch Szenen des Weltgerichts dargestellt. Der Gläubige überschreitet sozusagen die Schwelle der Weltgerichts und tritt in den Himmel ein und darf dort mit den vielen Heiligen, die auf den Fensterwänden erscheinen, Liturgie feiern, am himmlischen Schau-Spiel teilnehmen. Der Mensch wird beschützt von den Engeln, Propheten und Heiligen, die als Skulpturen oft in großer Zahl an den Außenwänden, vor allem an der Westfassade, angebracht sind.
Die andere Gotik: Bettelordenskirchen
Der starken religiösen Symbolkraft der Gotik würde man nicht gerecht, wenn man nur die großen Kathedralkirchen in den Blick nähme. Daß die große Versinnbildlichung des Himmels, die tiefe mystische Schau, für die der gotische Kirchbau steht, auch in heuchlerische Schaufrömmigkeit umkippen kann, wie oben bei der Beschreibung der Reliquienverehrung bereits angedeutet, und dadurch gerade die Begegnung Gottes im Innern des Menschen verhindert, darauf haben die Bettelorden immer wieder hingewiesen. Sie haben im Anschluß an Bernhard von Clairvaux auf Einfachheit und Beschränkung gedrängt. Die gotischen Bettelordenskirchen überzeugen durch ihre Schlichtheit, wollen durch die Beschränkung auf das Wesentliche alles beiseite lassen, was der mystischen Schau und Gottesbegegnung im Wege stehen könnte. Sie verzichten deshalb auf die großen Höhen, machen in der Regel die Linienführung durch Verzicht auf Emporen und Triforien klarer und haben keine Türme. Lediglich ein kleiner Dachreiter über dem Mittelschiff signalisiert die transzendente Richtung, die Verankerung des menschlichen Lebens in einem überirdischen Dasein.
Beide Formen der Darstellung von Transzendenz in der Immanenz kennt also die Gotik: Die Inszenierung in Fülle, die Heil, Erlösung und Freiheit verspricht, weil es an nichts mangelt, aber auch die Inszenierung nach dem Gedanken der Wüstenerfahrung: Weil sich alles auf das Wesentliche konzentriert, weil man nicht mehr haben will, als man zum wirklichen Leben braucht, erfährt man innerlich, daß die Nähe Gottes den Menschen in die Freiheit führt. Er wird sich seines Erlöstseins durch Jesus Christus gewiß. Armut und Reichtum heißen die beiden Seiten. der Gottesbegegnung und Himmelserfahrung. Beide Formen prägen die Gotik, und beide sind nur die unterschiedlichen Facetten derselben Proklamation des Glaubens: Christus in der mystischen Schau zu begegnen, um so zu sich selbst zu finden und zum Ziel des Lebens zu gelangen.
Interessant, dass der Eingang zu einer Krypta in den meisten Kirchen auf den ersten Blick verborgen bleibt.
Durch die Verzerrung steht das Bauwerk ein bisschen auf wackeligen Füßen ;-), aber die Bearbeitung des Bildes ist gut gelungen.
Gruß, Adrian
Eine fantastische Architektur, die Du ebenso in einem Bild, in dem die zarten Lichter eine hervorragende Rolle spielen, verarbeitet hast. Bemerkenswert, daß hier keine tiefen Schatten und überstrahlte Lichter die Wirkung schmälern. Auch die Symmetrie ist perfekt und trägt wesentlich zu der räumlich wirkenden Ansicht bei.
VG Ernst
Welch ein schönes altes Wort: Innewerdung!
Mit Deinem Bild hast Du für das, was die Moderne vielleicht das "Ganz-bei-sich-selbst-Sein" nennen würde, den entsprechenden Raum geschaffen. Wenn ich hier nicht die Termini abgebildet oder festgehalten verwende, dann deshalb, weil die von Dir gewählte, lichtdurchflutete Inszenierung die sakrale Realität auf eine besonders intensive Art verwandelt hat. - Ganz ausgezeichnet.
Beste Grüße, Peter
Großartig, wie du das Licht mit dem Gewölbe spielen lässt, einen wundervollen Raumeindruck hast du geschaffen. Die Strenge und die Schlichtheit der Krypta wird noch durch die sanfte Tonung verstärkt. Ich bin begeistert! LG ilsabeth
ich weis noch nicht 15/03/2014 11:40 Commento di voto
cDie Mohnblumen 15/03/2014 11:40 Commento di voto
+Arnd U. B. 29/08/2013 18:18
Die Bearbeitung betont geschickt das Besondere dieses Ortes. Liebe Grüße Arnderich w. 13/08/2013 15:33
meditatives bild..mag die tonung
lg. e
E-Punkt 12/07/2013 15:44
Liebe Kerstin, noch einmal ich,das Formen- und Farbenspiel
der anderen beiden verlinkten Fotos
übt auf mich eine starke Anziehungskraft
aus. Es liegt an dieser Verbindung von
Formen- und Farbenspiel,
daß mich diese Details und sozusagen
der gezeigte Minimalismus überaus begeistert
und visuell fast noch mehr ansprechen
als das Hauptfoto.
Das hast du ganz toll gemacht.
LG Elfi
E-Punkt 12/07/2013 15:41
Ein wunderschönes Beispielromanischer Bauweise, liebe Kerstin,
In dieser Farbeinheit läßt einen das
Foto innehalten und man begibt sich
gedankenvoll in dieses Bild und damit
in eine große Ruhe.
Laß dich herzlichst grüßen von
Elfi
† werner weis 21/06/2013 9:48
rein, kühl, einfach, solide
wo, wenn nicht hier, findet man sich
E. W. R. 20/06/2013 15:53
Dann ist der Zweck der Aktion ja bereits teilweise erfüllt. Den Aufsatz von Friedrich Ohly lernte ich als Student kennen. M.Michael Jo. 20/06/2013 14:51
aber höchstinteressiert hat Herr M,Deine / bzw. diese Abhandlung gelesen
- und (zugegeben) zur Gotik einen neuen
Zugang gefunden;
Danke an Herrn M. !
;-)
Michael
E. W. R. 20/06/2013 14:15
Lieber Adrian, ein Superweitwinkel schafft nun mal andere Bilder, als sie das menschliche Auge sieht.Abgesehen davon ist es in der Krypta des Merseburger Doms stockdunkel; das Einzige, was man sieht, ist das Fenster in der Mitte. In dieser Dunkelheit die Kamera auszurichten, ist selbst mit Wasserwaage nicht so einfach. Und ein hundertprozentig symmetrisches Foto kommt bereits deshalb nicht heraus, weil die Krypta nicht perfekt symmetrisch angelegt ist.
Was die geistliche Bedeutung der Krypta betrifft, kann ich mich nach wie vor mit dem oben zitierten Postulat von der Krypta als Ort der Innewerdung nicht recht anfreunden. Ich denke, bis auf weiteres bleibt es dabei, was auch W. Ikipedia sagt: "In der Krypta befanden sich anfänglich entweder das Grab oder die Reliquie eines Märtyrers, was neben der heilsspendenden Wirkung auf in der Nähe Bestattete auch Pilger von außerhalb anziehen sollte." Ein Vortrag über die Technik der Einbalsamierung im Mittelalter, den ich vor kurzem hörte, hat mir wieder einmal gezeigt, wie wichtig dem Mittelalter die stoffliche Realpräsenz der Überreste eines Herrschers oder Heiligen war.
Ansonsten kommt man in der Krypta in der Tat zur Ruhe gegenüber dem Getriebe der Welt; das ist unbestreitbar. Das hier gezeigte Bild ist unglaublich hell, in der Krypta ist es aber in Wirklichkeit so dunkel, dass man durch den Sucher der Spiegelreflex genausowenig sieht wie mit bloßem Auge, nämlich fast nichts.
Allerdings waren die Kirchenbauten tatsächlich symbolhaft aufgeladen, wie das vor allem für die Gotik erforscht worden ist. Aber die Gotik ist es eben auch, die die Heiligengebeine aus der Krypta holt und im Altarraum ansiedelt:
Die Symbolkraft der Gotik
• Vorbemerkung
• Die Betonung des Vertikalen
• Immanenz und Transzendenz werden ganzheitlich gedacht
• Die mystische Erfahrung als Reaktion auf das Zeitgeschehen
• Die gotische Kathedrale als Ewigkeitsraum
• Die gotische Kathedrale als mystischer Leib Christi
• Die Fortschritte der Baukunst – Basis für die Symbolik der Gotik
• Die Schaufrömmigkeit zur Zeit der Gotik
• Die andere Gotik: Bettelordenskirchen
•
Vorbemerkung
Der nachfolgende Artikel ist eine leicht veränderte Wiedergabe des vom Autor stammenden Artikels “Den Himmel berühren” in dem Buch “Bieger, Blome, Heckwolf (Hg.), Schnittpunkt zwischen Himmel und Erde - Kirche als Erfahrungsraum des Glaubens”, Verlag Butzon und Bercker, Kevelaer 1998. Dieses Buch versucht, die spirituellen und symbolischen Schätze der Kirchen für das heutige Lebensgefühl zu erschließen und will anregen, diese Schätze für die Glaubensverkündigung zu nutzen.
Über die Jahrhunderte hinweg ist der abendländische Kirchbau eine öffentliche Proklamation des christlichen Glaubens. Im Kirchbau spiegeln sich sowohl die Entwicklungen der Baukunst und der Architektur als auch die Spiritualität und das religiöse Lebensgefühl der jeweiligen Epochen wider. Dies gilt in ganz besonderer Weise für die Gotik, die nach 1130 in Frankreich ihren Ausgang nahm und sich nach und nach über weite Teile Europas hin ausbreitete. Selbst in Spanien und Italien, wo man sich mit der Baukunst der Gotik nicht so recht anfreunden konnte, finden sich - wenn auch in geringerer Zahl - bedeutsame Bauwerke dieser Stilrichtung. Die Gotik bringt die große Kreativität des 12. Jahrhunderts zum Ausdruck, die auf den verschiedensten Gebieten, angefangen von neuen Gattungen in der Literatur über das Zusammendenken von Philosophie, systematischer Theologie und Naturwissenschaft bis hin zum Entstehen des Minnegesangs und der Mystik, zu großen Erneuerungen führt. Der schöpferische Aufschwung des 12. Jahrhunderts gibt der mittelalterlichen Entwicklung, die oft vorschnell als globale Einheit gesehen wird, eine epochale Wende. Mit diesem Wandel geht auch ein Wandel im religiösen Fühlen und Verhalten einher, ohne das der gotische Kirchbau nicht zu verstehen ist.
Die Betonung des Vertikalen
Die Verankerung des Lebens in der Transzendenz war für den mittelalterlichen Menschen selbstverständlich. Findet diese Verankerung in der Romanik noch ihren Ausdruck im Gedanken der himmlischen Gottesburg, die Schutz vor den Mächten des Untergangs mitten in dieser Welt versprach, so ist es in der Gotik ein neues Motiv. Der gotische Kirchbau greift die Grundidee des himmlischen Jerusalems, die den christlichen Kirchbau von seinen Anfängen beherrschte, auf, stellt es jetzt aber als Himmel dar, der sich in seiner ganzen Fülle auf die Erde niederstreckt und gleichzeitig über sie erhebt. Die Bauten wachsen in eine bis dahin nicht vorstellbare Höhe. Die vertikale Linie wird über alle menschliche Maße hinaus gesteigert. Durch die Verwendung von Spitzbögen an Stelle der in der Romanik vorherrschenden Rundbögen wird sie in ihrer Wirkung noch verstärkt. Man wagt sich an Grenzen heran, wie sie statisch damals gerade noch denkbar waren, teilweise geht man sogar über sie hinaus. In Beauvais, wo der Chor fast 47m und das südliche Querhaus sogar 48,5m Höhe mißt, ist das Gewölbe mehrfach eingestürzt, weil man es statisch nicht mehr beherrschen konnte. Auch in anderen gotischen Kathedralen sind Höhen von über 35m keine Seltenheit, z.B. in Chartres mit 36,6m , in Amiens mit 42,3m oder in Köln mit 43,4m.
Die Spannung von Transzendenz und Immanenz, von Jenseits und Diesseits, beschäftigt den religiösen Diskurs zu allen Zeiten. Diese Frage gehört zu den existentiellen Grundfragen der Menschen. Die Gotik beantwortet sie mit dem “Sursum corda” - dem “Erhebt-die-Herzen”, nicht mehr mit dem sich demutsvollen Einfügen in die kosmologische Ordnung, wie es noch die Romanik tat. Im irdischen Leben schon ein Stück Himmel erfahren und doch gleichzeitig zu spüren, daß dieser Himmel alles Irdische bei weitem übersteigt - das prägt die Symbolkraft des gotischen Kirchbaus. Der Mensch begreift seine Endlichkeit, wenn er sich selbst übersteigt im Über-sich-hinaus-Sein. Im Ausgerichtet-Sein auf Transzendenz erfährt er Sinn. Die spannungsvolle Balance zwischen Transzendenz und Immanenz wird in diesen Erfahrungshorizont gestellt. Die gotische Kathedrale steht dafür als öffentliches Symbol und bestärkt die Plausibilität dieses Glauben: Architektur wird zu Stein gewordenem Sinn, zur Symbolik, die die beiden Wirklichkeitsebenen von Transzendenz und Immanenz zusammenfügt und so das rein Funktionale übersteigt!
Immanenz und Transzendenz werden ganzheitlich gedacht
Das Zusammendenken der beiden Wirklichkeitsebenen ist nicht neu, neu ist aber, daß dies im 12. und 13. Jahrhundert mit einer alle Bereiche des menschlichen Lebens erfassenden Suchbewegung nach Ganzheitlichkeit verbunden ist. Die Suche nach dem Sinn der Offenbarung in der Hl. Schrift und in der Schöpfung wird nicht mehr statisch verstanden, die Welt wird nicht mehr heilsgeschichtlich-typologisch gedeutet, sondern als dynamischer Prozeß. Angesichts der Erfahrung, daß die irdische Ordnung, die in den Jahrhunderten zuvor wie selbstverständlich als Teil und Spiegel der gottgewollten kosmischen Ordnung geglaubt wurde, zu zerbrechen droht, setzt auf allen Gebieten die Suche nach Einheit und Ganzheit ein. In der Scholastik werden Naturwissenschaft, Philosophie und dogmatische Theologie als eine einzige große Wissenschaft zusammengedacht. Der Ritterroman ist davon geprägt, den Helden als Verkörperung eines nach gott- und weltgefälligem strebenden Humanitätsideal darzustellen. Die Mystik weiß sich vom Gedanken der Einung des Menschen mit Gott getragen. Und in der Schrifterklärung weichen die Wort-für-Wort-Interpretationen einer ganzheitlich-geistigen Sichtweise.
Diese Suche nach Ganzheitlichkeit schlägt sich auch in der Architektur nieder. Die Herausarbeitung von Zyklen an Stelle von Einzeldarstellungen werden in der Kathedralplastik bestimmend, und der Kirchenraum wird in einen mystischen Raum verwandelt. Die Wände verlieren an Materialität, sie werden dünner und mit großen Fenstern durchbrochen. Es werden Glasflächen mit vornehmlich blauen, rötlichen und goldfarbenen Tönen eingebaut. Ein bläulich-violettes, gleichsam ein mystisches Licht erfüllt den Raum. Die Wirkung wird noch verstärkt, indem man die Wände und die Säulen bemalt, oft in rotbraunen Tönen, und nicht selten werden Edelsteine und Kupferfäden in die Fenster integriert, um eine besondere, “mystische Lichtbrechung” zu erreichen. Die Säulen werden gebündelt und verlieren so ihre Mächtigkeit. Die gesamte Architektur ist davon bestimmt, den Himmel sinnenhaft erfahrbar zu machen. Ein Beispiel für die Entmaterialisierung und die Betonung des Sinnlichen ist Ste. Chapelle in Paris, eine Kleinform der gotischen Kirchbauweise. Dort sind die Fensterflächen so groß, daß die Wände aus Stein völlig zurücktreten. Sie sind auf das absolut notwendige statische Minimum reduziert. Kein Stein dürfte fehlen, sonst würde das Gebäude einstürzen.
Die mystische Erfahrung als Reaktion auf das Zeitgeschehen
Die Betonung des Mystischen und der Ganzheitlichkeit ist die Reaktion auf bittere existentielle Erfahrungen. Konflikte, Kriege, Seuchen und Pest ließen zunehmend eine Skepsis gegenüber der irdischen Ordnung und irdischen Welt aufkommen. Hinzu kommt, daß sich in der Zeit der Gotik das Zerbrechen der “Zwei-Schwerter-Lehre” ankündigt. Die Lehre von den zwei Gewalten, mit deren Hilfe man das Verhältnis von weltlicher und geistlicher Macht zu bestimmen versuchte, hat zwar über die Jahrhunderte hinweg immer wieder zu Kämpfen und Konflikten geführt, doch der Grundsatz, daß sowohl der Kaiser als auch der Papst und die Bischöfe Schützer von Religion und Kirche zu sein haben, war nicht bestritten. Lange stand der Kaiser im Rang eines Diakons, die Kaiserkrönung hatte sakralen Charakter. In ottonischer Zeit hat man dem Kaiser im Westchor einen eigenen Altar eingerichtet. Er als Beschützer der Kirche bekam auch symbolisch in großen Kathedralkirchen einen Platz. Die Gläubigen im Kirchenschiff zwischen Ost- und Westchor wurden sozusagen beschützt von der weltlichen und der geistigen Macht. Doch nach Canossa 1122, ist diese Grundüberzeugung, daß neben der geistigen Macht auch der Kaiser Schützer der Kirche sei, immer mehr desavouiert worden. Dem Kaiser wurden nach und nach Eingriffe in kirchliche Entscheidungen abgesprochen und seine besondere Stellung als “gesalbter” Diakon bestritten. Als Antwort auf diese Erfahrung der brüchig werdenden irdischen Ordnung setzt sich die mystische Schau, die spirituelle Erfahrung der vollkommenen himmlischen Ordnung in der Begegnung mit Gott durch. Das religiöse Lebensgefühl, das stark an einer “objektiven” Weltordnung ausgerichtet war, in die sich der einzelne einzufügen hat, wird ergänzt und teilweise abgelöst durch eine “subjektive”, nach innen gerichtete Spiritualität. Christus in der heiligen Schau zu begegnen, seine Größe und Vollkommenheit zu erfahren und sich mit ihm zu vereinigen ist Antwort auf die Kontingenzerfahrungen im Alltag. Im Kathedralbau als mystischem Raum spiegelt sich diese Spiritualität.
Eine ganz besondere spirituell-symbolische Dimension, die bisher kaum beachtet wird und erst in Ansätzen erforscht ist, erhält der gotische Kirchbau durch die großen Mystiker der Zeit wie Hildegard von Bingen, Adam dem Schotten, Joachim von Fiore und Hugo von St. Viktor. Ihre mystische Schau in Ganzheiten bewegt sie, das Geschaute nicht nur in Worten, sondern auch mit einem Bild auszudrücken. Diese Bilder versuchen durchweg, das Universum als ganzes darzustellen. Bekannt und gut erhalten ist etwa Hildegards Ewigkeits-Zeiten-Rad, das den gesamten Heilsgeschichtskosmos darstellt von der Zeit vor der Schöpfung bis zum Jüngsten Gericht, umgeben von den Händen Gottes. Gott, der Ewige, hält in diesem Bild Raum und Zeit zusammen. Ein ganz ähnliches Motiv enthält das Bild und die dazugehörige Beschreibung der Arche Noahs von Hugo von St. Viktor. Dieses Bild dürfte auf den Kirchbau eine noch entscheidendere Wirkung ausgeübt haben. Das Bild selbst liegt uns heute zwar nicht mehr vor, jedoch die beschreibende Erklärung. Dort bezeichnet Hugo von St. Viktor die Arche als einen Ort der Fülle, an dem die Werke des Heils vom Beginn der Welt bis an ihr Ende vollzählig versammelt sind. Das Verborgene, das, was der Mensch nur ahnen kann, wird im Bild der Arche offenbar, die der vergänglichen Welt entgegengestellte unvergängliche Welt wird sichtbar. Die vergängliche Welt wird von der größeren unvergänglichen Welt umfaßt. Diese unvergängliche umfassende Welt ist - so Hugo von St. Viktor - mit den Augen des Herzens zu schauen. Im Bild der Arche versammelt sich das Vergangene und Zukünftige. Der gesamte Prozeß der Geschichte wird in einem einzigen Bild zusammengefaßt, und so die Abfolge der Zeit in Gleichzeitigkeit verwandelt. Die gegenwärtige Welt wird aufgehoben in der ewigen Welt. Die Kategorien von Zeit und Raum werden in diesem Bild überwunden, die gesamte (Heils-)Geschichte wird im Bauwerk der Arche zur bleibenden Gegenwart. Dabei symbolisiert die Länge der Arche die Zeitachse, die Breite bringt die Kategorie des Raumes zum Ausdruck, und die Höhe stellt die Werteordnung dar. Der gesamte Kosmos wird im Bauwerk der Arche erfaßt und gibt so dem Menschen die Möglichkeit, das zu schauen, was sonst eigentlich nur Gott schauen kann. Die Arche wird sozusagen als Mikrokosmos geschaut, in dem sich der universale Kosmos abbildet und in dem Vergangenheit und Zukunft in einem Bild zur Gleichzeitigkeit zusammenfallen. Die innere Schau gibt dem Menschen den Blickwinkel Gottes, der gleichsam von “außen” die Heilsgeschichte in ihrer Gesamtheit überblickt.
Die gotische Kathedrale als Ewigkeitsraum
Das, was Hugo von St. Viktor am innerlich geschauten Bild vom Bauwerk der Arche festmacht, überträgt die gotische Architektur auf den Kirchbau. Friedrich Ohly bezeichnet deshalb die gotische Kathedrale als Zeitenraum und zeigt am Beispiel vom Dom von Siena, wie in einem einzigen Kirchenraum symbolisch die Simultanität der gesamten Heilsgeschichte und Werteordnung erfaßt und für den Gläubigen erlebbar wird. Obwohl man südlich der Alpen den Begriff der Gotik eher abwertend verstand und man diesem Baustil wenig abgewinnen konnte, sind die in diesem Baustil errichteten Kirchen hervorragende Zeugen für die geistig-spirituellen Grundlagen. In Siena konnte man auf die seit der Antike in Italien verbreitete Tradition der Mosaikfußböden zurückgreifen und sie in den dortigen Dom integrieren. Man ist dabei aber von der sonst üblichen Ornamentik des Mosaikfußbodens abgewichen und hat ein einzigartiges Bildprogramm verwirklicht. Gerade in diesem Mosaikfußboden zeigt sich der Versuch einer ganzheitlichen heilsgeschichtlichen Schau, die die irdischen Grenzen von Raum und Zeit sprengt und die Weltgeschichte zum Weltbild werden läßt.
Wie in Hugo von Viktors geschauter Arche die Länge als Zeitenachse gedeutet wird, so symbolisiert in Siena die Länge des Fußbodens den Verlauf der Heilsgeschichte. Schon der Marmor des Fußbodens, ein Werkstoff, der auch den Fußboden des Tempels Salomons zierte, erinnert an die Fundamente, auf denen die Kirche als Gemeinschaft von Gläubigen steht.
Das Bildprogramm des Fußbodens beginnt auf dem Vorplatz mit Szenen aus der Vorgeschichte des Christentums, der Darstellung eines Tempels, dem Juden und Zöllner, nach neutestamentlichem Verständnis Heiden, zugewandt sind, und mit der Darstellung der Opferung eines Widders auf dem Altar. Diese Vorgeschichte setzt sich im Innern der Kirche mit der Darstellung von ägyptischen Sphinxen fort, die auf den Empfang der Schriften und Gesetze warten, sozusagen als Vorläufer des Mose, der das Gesetz aus der Hand Gottes erhielt. Im weiteren Gang hin zum Altar folgen Darstellungen, die auf Rom als dem Zentrum der Welt und auf Griechenland als dem Ort der Weisheit hinweisen. Im Fußboden der Seitenschiffe ergänzen Sibyllen das Bildprogramm. Sie stehen für Lybien, Phrygien, Persien und andere Länder. In die Breite gehend werden die Weltenräume erfaßt. Die ganze damalige Welt mit ihrer Geschichte wird zum verdichteten Hinweis auf Jesus Christus, der im Altar symbolisiert gegenwärtig ist.
Im Querhaus und auf der Fläche zwischen Langhaus und Altar füllen Szenen der Propheten und des Alten Testaments den Fußboden. Auf die heidnische Geschichte folgt die Geschichte der Juden. Der Besucher durchschreitet auf den Fundamenten seiner Väter und Mütter gehend die gesamte räumliche Welt und die gesamte Geschichte, die ihn zum Altar, zu Christus selbst, hinführt und ihn diese Geschichte als Teil der Heilsgeschichte erfahren läßt. Auf diesen Fundamenten gehend, überhebt sich über ihm der Himmel, das ewige Jerusalem, das keinen Raum und keine Zeit mehr kennt.
Eingetaucht in das durch die Fenster strahlende mystische Licht, darf der einzelne in diesen Himmel eintreten und symbolisch-sinnenhaft, letztlich in der mystischen Schau, schon jetzt Christus begegnen, der seinem Leben Sinn, Richtung und Ziel gibt. In diesem himmlisch-mystischen Welten- und Zeitenraum hat der einzelne aber nicht nur als Individuum seinen Platz, sondern auch als Bürger einer sozialen Ordnung, die sich in gotischen Kathedralen in Form von Kapellenkränzen um den Altarraum und in vielen Seitenkapellen für die unterschiedlichen Zünfte spiegelt.
Die gotische Kathedrale als mystischer Leib Christi
Die Suche nach Ganzheitlichkeit und Betonung des Sinnlichen und Übersinnlichen, die den Verstand übersteigende Begegnung des Menschen mit der göttlichen Unendlichkeit, schlägt sich beim gotischen Kirchbau oft auch im Grundriß nieder. Die Achse macht nicht selten einen Knick. Der Altarraum steht leicht schräg zum Kirchenschiff. Die gesamte Kirche mit ihrem kreuzförmigen Grundriß symbolisiert den hingestreckten, mystischen Leib des gekreuzigten Christus. Der Altarraum ist das geneigte Haupt, das Querhaus entspricht den ausgestreckten Armen, und der Eingangsbereich symbolisiert die Füße. In den Körper hinein wird die Weltordnung abgebildet, in der auch die Gläubigen als Glieder am Leib Christi im Kirchenschiff ihren Platz haben. Das Trudperter Holeto um 1160, ein frühmittelhochdeutsches Hohes Lied, deutet den Körperaufbau so, daß das Haupt die Trinität symbolisiert, der Leib die Kirche der Gegenwart, die Beine und Füße die Zeit bis zum Auftreten des Antichristen und bis zum Jüngsten Gericht. Nach dieser symbolischen Vorstellung hat das Jüngste Gericht am “Fußende” der Kirche seinen Platz. Deshalb sind die Tympana mit den Szenen des Weltgerichts meist über den Westportalen, dem Altarraum gegenüberliegend, angebracht.
So verbindet sich die christologisch-theologische Dimension mit der geistig-sinnlichen Erfahrung. Die Kirche wird zur “Wohnung Gottes unter den Menschen” (Offb 21,3) und zur himmlischen Stadt Jerusalem, in der die Menschen schon jetzt “göttlich” leben können. Auch das Rosettenfenster, das typisch für die gotische Kathedrale ist, deutet diese Wirklichkeit an. Es steht für Christus, dessen Glanz die himmlische Stadt Jerusalem erleuchtet.
Die Fortschritte der Baukunst – Basis für die Symbolik der Gotik
Um diese Vergeistigung des Kirchenraums zu ermöglichen, waren Fortschritte in der Baukunst und eine neue Bautechnik Voraussetzung. Um die Wände zu stützen, bedurfte es der Strebewerke, die man nach außen baute. Erst dadurch wurde es möglich, die Wände dünner zu machen und mit großen Fenstern zu öffnen. Gleichzeitig war die Entwicklung einer neuen Gewölbetechnik erforderlich. Die alten schweren Tonnengewölbe mußten durch eine leichtere Konstruktionsweise ersetzt werden. Die Erfindung des Kreuzrippengewölbes, das zum Kennzeichen des gotischen Kirchbaus wird, macht es möglich, die statischen Lasten zu reduzieren und über verhältnismäßig dünne Wände in Verbindung mit entsprechenden Strebewerken in die Fundamente abzuleiten. Symbolisch kann das Gewölbe mit seinem Netzwerk jetzt die Strukturen des gewölbten Himmels abbilden.
Darüber hinaus entwickelte man die in früheren Epochen bereits gekannte Idee, Außenwände durch angebaute Seitenschiffe zu stützen, konsequent weiter. Man beließ es nicht bei den statisch notwendigen und nach außen gebauten Strebewerken, sondern verband die Notwendigkeit der Abstützung mit dem der Zeit entsprechenden Frömmigkeitsgefühl. Die Betonung der mystischen Schau, der daraus resultierenden Individualität und Subjektivität führte zu einer Privatfrömmigkeit, die sich in einer Vielzahl von Altären und Kapellenkränzen um den Chor herum niederschlug. Dort stellte man Reliquienschreine auf, dort konnten Menschen “ihre” Heiligen verehren und die Zünfte ihre Gottesdienste und Feste feiern. Die Volksfrömmigkeit wird immer mehr zur Privatfrömmigkeit, und in der Liturgie verstärkt sich die bereits in der ottonischen Zeit aufgekommene Trennung zwischen Kleriker- und Volksliturgie. In Bischofskirchen und großen Klosterkirchen werden teilweise sogar Chor und Kirchenschiff durch einen Lettner, einen bühnenartigen Aufbau am Ende des Chores oder nach dem ersten Joch des Langhauses, getrennt.
Die Schaufrömmigkeit zur Zeit der Gotik
Die Vermehrung der Seitenkapellen und Altäre konnte auf eine Tradition zurückgreifen, die bereits in Klosterkirchen der Karolingerzeit entwickelt wurde. Auch dort gab es neben dem Hauptaltar weitere Altäre im Kirchenraum. Die Idee dazu entsprang damals aber nicht dem Interesse der Förderung der Privatfrömmigkeit, vielmehr wollte man ein Abbild von Rom schaffen. Als in den ersten Jahrhunderten die Zahl der Christen erheblich wuchs, hat man in Rom nicht nur in der Hauptkirche Gottesdienste gefeiert, sondern auch sogenannte Stationsgottesdienste in vielen anderen Kirchen. Um deutlich zu machen, daß es dabei stets um die eine große Liturgie ging, gab es den Brauch, gebrochene Hostienteile aus der Hauptkirche in die Außenkirchen zu bringen. Es sollte symbolisch zum Ausdruck gebracht werden, daß es bei allen Eucharistiefeiern um das eine große Opfer Jesu Christi geht, auch wenn es räumlich getrennt gefeiert wurde. Dieser Gedanke der einen großen Liturgie in Verbindung mit den Stationsgottesdiensten in anderen Kirchen, wurde in den Klosterkirchen aus karolingischer Zeit durch die Vermehrung der Altäre in einem Raum symbolisch aufgegriffen. Daran hat später die Romanik und vor allem die Gotik angeknüpft, die Symbolik der vielen Altären jetzt aber inhaltlich neu gefüllt. Der Akzent liegt nicht mehr auf der Einheit der Liturgie in differenzierter Form, sondern in der Pflege privater Frömmigkeit und in der Quantifizierung der Gnade durch Vermehrung der “Winkel”-messen: Ein Prozeß, der mit der Trennung zwischen Klerikerliturgie und Volksliturgie einhergeht.
Geprägt ist die mittelalterliche Frömmigkeit sehr stark durch die Erfahrung einer in Folge von Krieg und Seuchen heillos erscheinenden Welt. Die schreckliche Konfrontation mit dem Tod, die brüchig werdende politische und soziale Ordnung führen Ende des 11./Anfang des 12. Jahrhunderts zu einer nie dagewesenen Reliquienverehrung und zu einem kaum vorstellbaren Wallfahrtswesen. Hunderttausende pilgerten jedes Jahr nach Santiago de Compostela. Der Weg dorthin führte über viele Stationen, Kirchen mit besonderen Reliquien, in denen man Halt machte und auch übernachtete. In einer vom Totentanz beherrschten Menschheit macht sich das Gefühl des nahenden Weltuntergangs breit, die Menschen suchen nach Fürbittsprechern für ihr Seelenheil. Diese Gefühle und Stimmungen schlagen sich am Ende der Romanik und dann vor allem in der Gotik im Kirchbau nieder. Die in der Romanik entstehenden Emporen oberhalb der Seitenschiffe, die zum größten Teil zur Aufnahme der Pilger dienten, tragen in der Gotik mit dazu bei, daß sich die Wände auflösen, gegliedert werden und eine ganz neue Raumatmosphäre entsteht. Als zweite wichtige Änderung setzt sich in der Gotik durch, daß die Reliquien nicht mehr in der Krypta bzw. in der Confessio, einem Märtyrergrab unmittelbar unter dem Altar, verbleiben. Sie werden jetzt in den Kirchenraum geholt und in Reliquienschreinen aufbewahrt.
Die tiefe innere, die mystische Schau, die sich in der Symbolkraft der gotischen Architektur niederschlägt, verbindet sich mit der äußeren Schau. Was mit der Reliquienverehrung beginnt, setzt sich später in der Schaufrömmigkeit während der heiligen Messe, im Aufkommen der Fronleichnamsprozessionen nach 1200, in Meßfeiern zum ausgesetzten Allerheiligsten u.ä. fort. Auch wenn die Grenzen zwischen einer echten mystischen Frömmigkeit und einer veräußerlichten Schaufrömmigkeit, nicht selten verbunden mit einem auf Geldsammeln angelegten Ablaßwesen, fließend werden, so darf doch nicht übersehen werden, daß die unmittelbare Erfahrung mit Tod und Krankheit im Mittelalter eine andere war als heute. Die Gotik ist ohne diese Erfahrung des mittelalterlichen Menschen kaum zu verstehen. Die gotische Kathedrale gibt inmitten dieser vom Tod gezeichneten Welt die Gewißheit, daß es einen Himmel gibt, daß der Mensch Heil und Erlösung erfährt und die Kontingenzerfahrung eines irdischen Lebens hinter sich läßt. Dafür steht die gotische Kathedrale. In den Tympana über dem Eingang, meist über dem Westportal, sind deshalb auch Szenen des Weltgerichts dargestellt. Der Gläubige überschreitet sozusagen die Schwelle der Weltgerichts und tritt in den Himmel ein und darf dort mit den vielen Heiligen, die auf den Fensterwänden erscheinen, Liturgie feiern, am himmlischen Schau-Spiel teilnehmen. Der Mensch wird beschützt von den Engeln, Propheten und Heiligen, die als Skulpturen oft in großer Zahl an den Außenwänden, vor allem an der Westfassade, angebracht sind.
Die andere Gotik: Bettelordenskirchen
Der starken religiösen Symbolkraft der Gotik würde man nicht gerecht, wenn man nur die großen Kathedralkirchen in den Blick nähme. Daß die große Versinnbildlichung des Himmels, die tiefe mystische Schau, für die der gotische Kirchbau steht, auch in heuchlerische Schaufrömmigkeit umkippen kann, wie oben bei der Beschreibung der Reliquienverehrung bereits angedeutet, und dadurch gerade die Begegnung Gottes im Innern des Menschen verhindert, darauf haben die Bettelorden immer wieder hingewiesen. Sie haben im Anschluß an Bernhard von Clairvaux auf Einfachheit und Beschränkung gedrängt. Die gotischen Bettelordenskirchen überzeugen durch ihre Schlichtheit, wollen durch die Beschränkung auf das Wesentliche alles beiseite lassen, was der mystischen Schau und Gottesbegegnung im Wege stehen könnte. Sie verzichten deshalb auf die großen Höhen, machen in der Regel die Linienführung durch Verzicht auf Emporen und Triforien klarer und haben keine Türme. Lediglich ein kleiner Dachreiter über dem Mittelschiff signalisiert die transzendente Richtung, die Verankerung des menschlichen Lebens in einem überirdischen Dasein.
Beide Formen der Darstellung von Transzendenz in der Immanenz kennt also die Gotik: Die Inszenierung in Fülle, die Heil, Erlösung und Freiheit verspricht, weil es an nichts mangelt, aber auch die Inszenierung nach dem Gedanken der Wüstenerfahrung: Weil sich alles auf das Wesentliche konzentriert, weil man nicht mehr haben will, als man zum wirklichen Leben braucht, erfährt man innerlich, daß die Nähe Gottes den Menschen in die Freiheit führt. Er wird sich seines Erlöstseins durch Jesus Christus gewiß. Armut und Reichtum heißen die beiden Seiten. der Gottesbegegnung und Himmelserfahrung. Beide Formen prägen die Gotik, und beide sind nur die unterschiedlichen Facetten derselben Proklamation des Glaubens: Christus in der mystischen Schau zu begegnen, um so zu sich selbst zu finden und zum Ziel des Lebens zu gelangen.
Wolfgang Fischer
Bischöfliches Ordinariat, Liturgiereferat, Postfach 1560, D-55005 Mainz,
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Adrian K 14/06/2013 8:58
Interessant, dass der Eingang zu einer Krypta in den meisten Kirchen auf den ersten Blick verborgen bleibt.Durch die Verzerrung steht das Bauwerk ein bisschen auf wackeligen Füßen ;-), aber die Bearbeitung des Bildes ist gut gelungen.
Gruß, Adrian
Gert Rehn 07/06/2013 21:09
Das ist ein sehr schön beruhigendes Bild, das die Stille und Andacht wieder gibt. Die Tönung gefällt mir sehr.HG Gert
Ernst Seifert 04/06/2013 15:55
Eine fantastische Architektur, die Du ebenso in einem Bild, in dem die zarten Lichter eine hervorragende Rolle spielen, verarbeitet hast. Bemerkenswert, daß hier keine tiefen Schatten und überstrahlte Lichter die Wirkung schmälern. Auch die Symmetrie ist perfekt und trägt wesentlich zu der räumlich wirkenden Ansicht bei.VG Ernst
P.J. Scherer 04/06/2013 10:04
Welch ein schönes altes Wort: Innewerdung!Mit Deinem Bild hast Du für das, was die Moderne vielleicht das "Ganz-bei-sich-selbst-Sein" nennen würde, den entsprechenden Raum geschaffen. Wenn ich hier nicht die Termini abgebildet oder festgehalten verwende, dann deshalb, weil die von Dir gewählte, lichtdurchflutete Inszenierung die sakrale Realität auf eine besonders intensive Art verwandelt hat. - Ganz ausgezeichnet.
Beste Grüße, Peter
ilsabeth 03/06/2013 18:40
Großartig, wie du das Licht mit dem Gewölbe spielen lässt, einen wundervollen Raumeindruck hast du geschaffen. Die Strenge und die Schlichtheit der Krypta wird noch durch die sanfte Tonung verstärkt. Ich bin begeistert! LG ilsabeth