@ Kerstin: Liebe Kerstin, dass Du ihn persönlich erlebt hast, ist sicher eine besonders eindrückliche Erfahrung. Es heißt ja auch, dass er privat ebenso war wie öffentlich.
„Dass es so kam, grenzte für alle außer ihm selbst an ein Wunder. Am 2.Juni 1920 in Woclawek als Sohn eines polnischen Kaufmanns und einer deutschen Jüdin geboren, kam er im Alter von neun Jahren nach Berlin, wo er bis zum Abitur die Schule besuchte, ehe ihm aufgrund seiner Abstammung das Studium verweigert wurde. Er musste zurück nach Polen und lebte von 1940 an mit seinen Eltern und den beiden älteren Geschwistern im Warschauer Getto. Niemand hat diese Zeit eindringlicher geschildert als er selbst in seiner Autobiographie „Mein Leben“, eine der eindrucksvollsten Lebensgeschichten des zwanzigsten Jahrhunderts.
Dort steht auch, wie er zusammen mit seiner Frau Teofila, liebevoll Tosia genannt, am 18. Januar 1943 aus einer der Kolonnen ausscherte, in denen Teile der jüdische Bevölkerung zum Umschlagplatz getrieben wurden, um sie von dort ins Konzentrationslager Treblinka zu deportieren. Zunächst versteckten sich beide in einem unbenutzten Haus des Judenrates, in einem Raum, dessen Tür sie mit unzähligen Büchern verbarrikadierten.
Die lebensrettenden Bücher
Die Bücher sollten Marcel Reich-Ranicki nicht nur dieses eine Mal das Leben retten. Nachdem sie aus dem Getto entkommen waren, fanden Tosia und er nach vielenverzweifelten Stationen im Juni 1943 endlich Unterschlupf bei dem Setzer Bolek und seiner Frau Genia, die Marcel Reich-Ranicki wie Scheherazade bei Laune hielt, indem er Abend für Abend Geschichten erzählte. Er erzählte den „Werther“, „Wilhelm Tell“ und den „Zerbrochenen Krug“, „Immensee“ und den „Prinz von Homburg“, aber auch Opern wie „Aida“, „La Traviata“ und „Rigoletto“. „Mein Vorrat an Themen und Geschichten war, wie sich erwies, enorm.“ Er rettete seine Frau und ihn über den Krieg.
Und mindestens noch ein weiteres Mal wies ihm die Literatur den Weg. Als er 1950 nach mehreren Jahren Tätigkeit aus dem polnischen Außenministerium sowie dem Geheimdienst entlassen wurde und wegen „ideologischer Fremdheit“ mehrere Wochen lang in einer Einzelzelle inhaftiert war, bat er seine Frau um ein Buch, und zwar um „Das siebte Kreuz“ von Anna Seghers: „Während der Lektüre spürte ich immer deutlicher, dass meiner Laufbahn ein fatales Missverständnis zugrunde gelegen hatte: Ich hatte geglaubt, die Politik könne meine Sache sein oder werden. Aber den Roman von Anna Seghers lesend, begriff ich, dass mich die Literatur ungleich mehr interessierte als alles andere.“
Nach der jahrelangen Erfahrung von Lebensgefahr und vollständiger Unbehaustheit durfte man ihm nicht mit Heimat, Glaube oder Ewigkeit kommen. Selbstvergewisserung, oder, wie er es nannte „Kräftezuwachs“, fand er in Literatur und Musik. Vielleicht weil ihm Deutschland als Heimat nichts, die deutschsprachige Kultur hingegen alles bedeutete, empfand er keinen Widerwillen gegen das Land, das die Judenvernichtung betrieben hatte und in dem er sich dennoch in den späten fünfziger Jahren niederließ.
Der Koffer, die Schreibmaschine und die Bibliothek im Kopf
Seine Frau Teofila wäre vielleicht lieber in Großbritannien geblieben, wo er 1948 und 1949 als polnischer Konsul stationiert war und wo sein Sohn Andrew geboren wurde, doch für ihn bestand kein Zweifel daran, dass er dort hingehörte, wo Deutsch gesprochen und geschrieben wurde. Er trage sein Vaterland mit sich, sagte er, Heinrich Heine zitierend, und meinte damit, dass ihm die Nationalsozialisten alles nehmen konnten, aber nicht die Liebe zur deutschen Literatur, zum Theater und zur Musik. Im Juli 1958 kehrte Marcel Reich-Ranicki von einer Studienreise in die Bundesrepublik nicht nach Polen zurück.“
wie auch immer ... egal wer da nun Recht hat oder nicht ... der Tod dieses Mannes ist ein Geistiger Verlust für unser Land und all die jenigen die seine Ausführungen und Stellungnahmen liebten.
Ich finde es sehr gut, dass Du hier, anlässig seines Todes, an ihn erinnerst.
LG markus
Wahrheiten gibt es viele ... und verschiedene ... selbst wenn sie widersprüchlich sein mögen, können sie dennoch wahr sein. Menschliche Schicksale stellen die größten Fragen an uns. Die Antworten sind die Auseinandersetzungen damit.
Gruß Horst
Ein sehr gutes Bild ist das, lieber Eckhard! Das Foto, aber auch das Gemälde, das in seiner Expressivität und seiner farblichen Gestaltung keine glatte, gesetzte ältere Persönlichkeit darstellt, sondern einen Menschen in (all) seinen Facetten.
Auch wenn ich persönlich oder beruflich nichts mit dem Literaturkritiker zu tun hatte, hat er mich doch beeindruckt mit seiner Art, zu sagen, was er denkt, mit seiner Leidenschaft für das, was er tat, wie er einem Literatur 'ans Herz legte', mit welcher Kraft, mit immerwährendem Interesse, mit Überzeugung.
Ein bisschen so dachte ich bereits, als es diesen Artikel noch nicht gab. Es gibt ein paar wenige Leute, die man mit einer ewigen Existenz in Verbindung bringt, von denen man sich kaum vorstellen kann, dass auch sie eines Tages gehen müssen und einfach sterblich sind.
E. W. R. 22/09/2013 19:12
@ Markus: vor allem war er eine Institution nicht nur für eine einzige Generation.E. W. R. 22/09/2013 19:08
@ Ilse: Er ist ja auch einer, der anderen nicht nach dem Munde redete.E. W. R. 22/09/2013 19:08
@ Horst: Wichtig scheint mir, dass man die Wahrheit, die man erkannt zu haben glaubt, freimütig vertritt.E. W. R. 22/09/2013 19:07
@ Kerstin: Liebe Kerstin, dass Du ihn persönlich erlebt hast, ist sicher eine besonders eindrückliche Erfahrung. Es heißt ja auch, dass er privat ebenso war wie öffentlich.E. W. R. 22/09/2013 19:05
@ Annamaria: Danke!E. W. R. 22/09/2013 19:04
@ Klaus: Solche Menschen sollten natürlich nie aussterben.E. W. R. 22/09/2013 19:03
@ Gert:„Dass es so kam, grenzte für alle außer ihm selbst an ein Wunder. Am 2.Juni 1920 in Woclawek als Sohn eines polnischen Kaufmanns und einer deutschen Jüdin geboren, kam er im Alter von neun Jahren nach Berlin, wo er bis zum Abitur die Schule besuchte, ehe ihm aufgrund seiner Abstammung das Studium verweigert wurde. Er musste zurück nach Polen und lebte von 1940 an mit seinen Eltern und den beiden älteren Geschwistern im Warschauer Getto. Niemand hat diese Zeit eindringlicher geschildert als er selbst in seiner Autobiographie „Mein Leben“, eine der eindrucksvollsten Lebensgeschichten des zwanzigsten Jahrhunderts.
Dort steht auch, wie er zusammen mit seiner Frau Teofila, liebevoll Tosia genannt, am 18. Januar 1943 aus einer der Kolonnen ausscherte, in denen Teile der jüdische Bevölkerung zum Umschlagplatz getrieben wurden, um sie von dort ins Konzentrationslager Treblinka zu deportieren. Zunächst versteckten sich beide in einem unbenutzten Haus des Judenrates, in einem Raum, dessen Tür sie mit unzähligen Büchern verbarrikadierten.
Die lebensrettenden Bücher
Die Bücher sollten Marcel Reich-Ranicki nicht nur dieses eine Mal das Leben retten. Nachdem sie aus dem Getto entkommen waren, fanden Tosia und er nach vielenverzweifelten Stationen im Juni 1943 endlich Unterschlupf bei dem Setzer Bolek und seiner Frau Genia, die Marcel Reich-Ranicki wie Scheherazade bei Laune hielt, indem er Abend für Abend Geschichten erzählte. Er erzählte den „Werther“, „Wilhelm Tell“ und den „Zerbrochenen Krug“, „Immensee“ und den „Prinz von Homburg“, aber auch Opern wie „Aida“, „La Traviata“ und „Rigoletto“. „Mein Vorrat an Themen und Geschichten war, wie sich erwies, enorm.“ Er rettete seine Frau und ihn über den Krieg.
Und mindestens noch ein weiteres Mal wies ihm die Literatur den Weg. Als er 1950 nach mehreren Jahren Tätigkeit aus dem polnischen Außenministerium sowie dem Geheimdienst entlassen wurde und wegen „ideologischer Fremdheit“ mehrere Wochen lang in einer Einzelzelle inhaftiert war, bat er seine Frau um ein Buch, und zwar um „Das siebte Kreuz“ von Anna Seghers: „Während der Lektüre spürte ich immer deutlicher, dass meiner Laufbahn ein fatales Missverständnis zugrunde gelegen hatte: Ich hatte geglaubt, die Politik könne meine Sache sein oder werden. Aber den Roman von Anna Seghers lesend, begriff ich, dass mich die Literatur ungleich mehr interessierte als alles andere.“
Nach der jahrelangen Erfahrung von Lebensgefahr und vollständiger Unbehaustheit durfte man ihm nicht mit Heimat, Glaube oder Ewigkeit kommen. Selbstvergewisserung, oder, wie er es nannte „Kräftezuwachs“, fand er in Literatur und Musik. Vielleicht weil ihm Deutschland als Heimat nichts, die deutschsprachige Kultur hingegen alles bedeutete, empfand er keinen Widerwillen gegen das Land, das die Judenvernichtung betrieben hatte und in dem er sich dennoch in den späten fünfziger Jahren niederließ.
Der Koffer, die Schreibmaschine und die Bibliothek im Kopf
Seine Frau Teofila wäre vielleicht lieber in Großbritannien geblieben, wo er 1948 und 1949 als polnischer Konsul stationiert war und wo sein Sohn Andrew geboren wurde, doch für ihn bestand kein Zweifel daran, dass er dort hingehörte, wo Deutsch gesprochen und geschrieben wurde. Er trage sein Vaterland mit sich, sagte er, Heinrich Heine zitierend, und meinte damit, dass ihm die Nationalsozialisten alles nehmen konnten, aber nicht die Liebe zur deutschen Literatur, zum Theater und zur Musik. Im Juli 1958 kehrte Marcel Reich-Ranicki von einer Studienreise in die Bundesrepublik nicht nach Polen zurück.“
Felicitas von Lovenberg in der FAZ
E. W. R. 22/09/2013 18:53
@ Brigitte (2): Das Gemälde ist ein wirklich erstaunliches Portrait, das, wir mir scheint, den Augenblick transzendieren kann.E. W. R. 22/09/2013 18:52
@ Brigitte (1): Lieber ein Sternchen von Dir als in der "Galerie"!Markus Novak 22/09/2013 17:20
wie auch immer ... egal wer da nun Recht hat oder nicht ... der Tod dieses Mannes ist ein Geistiger Verlust für unser Land und all die jenigen die seine Ausführungen und Stellungnahmen liebten.Ich finde es sehr gut, dass Du hier, anlässig seines Todes, an ihn erinnerst.
LG markus
Ilse Jentzsch 22/09/2013 17:00
Den Worten von Michael Wolffsohn kann ich nur voll und ganz zustimmen.Gruß Ilse
Horst Schulmayer 22/09/2013 9:35
Wahrheiten gibt es viele ... und verschiedene ... selbst wenn sie widersprüchlich sein mögen, können sie dennoch wahr sein. Menschliche Schicksale stellen die größten Fragen an uns. Die Antworten sind die Auseinandersetzungen damit.Gruß Horst
Kerstin Stolzenburg 22/09/2013 9:11
Ein sehr gutes Bild ist das, lieber Eckhard! Das Foto, aber auch das Gemälde, das in seiner Expressivität und seiner farblichen Gestaltung keine glatte, gesetzte ältere Persönlichkeit darstellt, sondern einen Menschen in (all) seinen Facetten.Auch wenn ich persönlich oder beruflich nichts mit dem Literaturkritiker zu tun hatte, hat er mich doch beeindruckt mit seiner Art, zu sagen, was er denkt, mit seiner Leidenschaft für das, was er tat, wie er einem Literatur 'ans Herz legte', mit welcher Kraft, mit immerwährendem Interesse, mit Überzeugung.
Frank Schirrmacher schrieb in seinem Nachruf in der FAZ "Einen wie ihn werden wir nicht wiedersehen. Es stimmt nicht, dass jeder ersetzbar ist. Manche werden im Tod zur dauernden Abwesenheit, und er ist nun eine solche." ( http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/marcel-reich-ranicki/nachruf-auf-marcel-reich-ranicki-ein-sehr-grosser-mann-12580222.html )
Ein bisschen so dachte ich bereits, als es diesen Artikel noch nicht gab. Es gibt ein paar wenige Leute, die man mit einer ewigen Existenz in Verbindung bringt, von denen man sich kaum vorstellen kann, dass auch sie eines Tages gehen müssen und einfach sterblich sind.
http://www.focus.de/kultur/buecher/tid-33605/das-letzte-gespraech-mit-marcel-reich-ranicki-sich-mit-dem-tod-auszusoehnen-ist-unmoeglich_aid_1104911.html
Vor ein paar Jahren bin ich einmal zu einer Veranstaltung mit Reich-Ranicki im Baden-Badener Kurhaus gegangen, weil ich ihn einmal persönlich sehen/hören/erleben wollte. Reine Neugier natürlich! ;-)
In Erinnerung geblieben ist vor allem Achtung vor einem hochinteressanten Menschen, der etwas zu sagen hatte und der in der Lage war, einen zu begeistern für Bücher und die Literatur ... und damit grundsätzlich am Reichtum 'Wissen'.
... Eine erste Annäherung an dein Bild. ...
Kerstin
Annamaria Regia 22/09/2013 9:08
un bellissimo ritratto complimentisaluti buona domenica
Annamaria
Klaus Gärtner 22/09/2013 8:49
Egal wie man zu ihm stehen mochte - ihm konnte sich niemand entziehen. Hoffentlich stirbt diese Spezies Mensch nie ganz aus !!!!!VG Klaus