Insgesamt gefällt mir das Bild sehr gut. Trotzdem finde ich Kleinigkeiten etwas störend. Weshalb steht die Tischlampe kippelnd auf dem Füller?
Der weiße Knopf wäre vollständig hinterm Glas besser platziert. Am linken Bildrand frage ich mich, was das ist . . . . eine Stehlampe?
Gruß kirbreton
Super-Foto!!! Wenn ich jetzt noch was Geschriebenes drunter stellen wollte... also, lyrisch, so wie du, bin ich nur noch sehr selten unterwegs. Hier sind mal zwei kurze Sachen aus meiner Werkstatt. Einer zum Schmunzeln. Der untere. Der andere ist die Einleitung zu meiner Familiengeschichte...
1971. Der Kurze
Friedrichsfeld / Wesel (Ruhrgebiet)
Am liebsten spielt er mit zwei Plastikastronauten aus einer Wundertüte. Die hält er in der Luft, macht „Phhhhhhhhh…“ und sieht zu, wie sie durchs Weltall schweben und schwanken. Im Fernsehen guckt er den Spatz vom Wallraffplatz, die Bezaubernde Jeannie, die Hitparade, die Raumpatrouille Orion. Im Herbst hilft er seiner Omma, die Briketts für den Winter im Keller zu stapeln, im Sommer fährt er mit ihr in die Brombeeren. Das ganze Jahr über guckt er morgens aus dem Fenster und sieht Dutzende Männer mit Hüten auf den Köpfen, die auf Fahrrädern durch das Tor einer großen Fabrik fahren. Manchmal bringt ihn Omma zur Bushaltestelle an der B8, dann besucht der Kurze Helga, seine Mutter. „Omma“ wird hier in der Gegend eine Oma genannt, „Oppa“ ein Großvater, „Kurze“ sind Kinder, „der Kurze“, das bist du. Mütter sind Mütter und diese deine Mutter holt den Kurzen vom Bus ab, nimmt ihn bei der Hand, es geht quer durch die City von Wesel. Am Kornmarkt reißt der Kurze sich los. Er steckt die Nase durch Lücken morscher Bretterzäune, dahinter sind Mauerreste, Gruben voller Schutt. Kinder kraxeln durch die Trümmer, die Archäologen von morgen. Was ist das da? „Spuren humanoiden Lebens“, analysieren die Astronauten. Da willst du auch hin. „Dat is noch vom Kriech“, sagt Helga, „da darfsse nich´ rein, is´ verboten, viel zu gefährlich!“ Zu Hause reden Omma und Oppa immer wieder darüber, über diesen blöden Krieg. Omma in Sächsisch, Oppa auf Deutsch. Jeden Tag, obwohl das jetzt schon mehr als zwanzig Jahre her ist. Helga wohnt im dritten Stock eines nüchternen Backsteinbaus in Sichtweite der Trümmer. Der Kurze hat einen Stiefvater, Karl-Heinz, der haust da auch, ebenso Heidi, seine kleine Schwester, die scheißt noch in die Windeln. Die Wohnung ist schlicht, ein Korridor, drei Räume, durch die Küche geht es auf einen Balkon. Draußen stinkt es, wenn der Wind ungünstig steht, das kommt von den Ausdünstungen einer Futtermittelfabrik, die steht mitten im Hafen. Sie gehen da manchmal hin, zum Rhein, Helga und ihre zwei Blagen. Auch da stehen Trümmer, eine Eisenbahnbrücke war das mal, ein Pfeiler steht dicht am Ufer, „Warnung für Dampfschiffe“ steht darauf geschrieben, ein zweiter hat nasse Füße, der steht noch im Wasser. Zu Hause belagern solche Trümmer die Spundwände des Wesel-Datteln-Kanals.
Sie wohnen alle dicht am Wasser. Helga, Karl-Heinz und Heidi gleich hier am Rhein. Omma, Oppa und der Kurze ein paar Kilometer weiter südlich, in Friedrichsfeld, unweit des Kanals. Man muss ja weg kommen können von hier. Das ist wichtig in dieser Familie. Sollte man das hier überhaupt so nennen können, „Familie“. Ist der Kurze mal für einen Tag bei seiner Mutter, sitzt Karl-Heinz immer in einem Sessel, hört laut Symphoniekonzerte und Marschmusik aus einem nachtschrankgroßen alten Röhrenradio, liest Zeitung, säuft eimerweise Bier, quatscht unentwegt über Fußball, seinen MSV Duisburg, und prahlt bei jeder Gelegenheit mit seinem großen Latinum. Zu Hause hört Oppa nur beim Frühstück Radio. Die Wasserstandsmeldungen des Deutschlandfunks. Da muss man ganz leise sein, wenn der Sprecher monoton deklariert: „Rhein: Koblenz minus eins, Köln minus zwei, Düsseldorf minus zwei...“. Oppa kann kein Latein, aber den Spruch seiner Zunft, das Mantra der Schiffer, hat er in zwei blank polierte Holzplatten fräsen und über der Theke seiner Stammkneipe aufhängen lassen. VIVERE NON EST NECESSE. NAVIGARE NECESSE EST. Der Spruch geht eigentlich noch weiter, passt aber nur abgekürzt auf die Holzplatten und soll wohl bedeuten, dass das Leben völlig sinnlos ist, wenn man nicht reisen kann. Wenn Oppa verreist – das tut er regelmäßig, er bessert seine Rente mit Lotsenfahrten auf –, dann sitzt der Kurze bei Omma in der Küche, wo Omma sächsische Quarkkeulchen brät, Marmelade kocht und den ganzen Tag erzählt. Von früher, als sie ständig auf Reisen waren mit ihrem Schiff. Vom Krieg. Vom ersten Krieg, vom zweiten Krieg, von KZs, vom Kaiser und so. Ist Oppa zu Hause und geht in die Kneipe, nimmt er den Kurzen mit. Der wird da auf ein Kissen gesetzt, damit er über die Tischplatte des Stammtischs gucken und nach seinem Glas Limo greifen kann. Die alten Männer vom Schifferverein quatschen vom Schifffahren und von Politik. Von Fußball verstehen die anscheinend nix. Ist auch besser so: Fußball kann Oppa nicht leiden, so wie er seinen Schwiegersohn nicht leiden kann. Karl-Heinz ist, Gott sei Dank, nicht der Vater seines Enkels. Den kennt der Kurze nicht. So wie er selbst, der Schiffer, seinen Vater nicht kennt. Was wiederum das einzige ist, das er mit Karl-Heinz gemeinsam hat. Wahrscheinlich, das könnte der Kurze aus all dem schließen, was die Schiffer so labern, sind diese Väter alle in irgendeinem Krieg geblieben oder vor lauter Langeweile verendet, weil sie nicht verreisen konnten. Überhaupt sind aus der Familie, was wohl der Lauf der Dinge zu sein scheint, viele schon tot oder man hat Krach mit ihnen, schneidet sie oder sie wohnen so weit weg, dass man verreisen muss, um sie mal zu sehen. Immer im Sommer fährt der Kurze mit Omma und Oppa in die Ostzone, wo Ommas und Oppas Schwestern und Brüder, die ganzen Tanten und Onkel seiner Mutter mit ihren Kindern wohnen.
Am liebsten stehen sie gemeinsam auf der Brücke der Schleuse, Oppa und der Kurze. Da scheint die Zeit still zu stehen. Im Kofferradio des Schleusenwärters singt Tony Marshall das Lied von der schönen Maid. Schiffe wechseln vom Kanal in den Rhein, vom Rhein in den Kanal. Wasser wird abgepumpt, Wasser wird zugepumpt, weiße Schaumkronen schwimmen auf graugrüner Brühe, Tanker und Frachter kriechen aus den Schleusenkammern. Die Tore schließen sich, die Tore gehen auf. Zugucken könnte man bis tief in die Nacht! Nur mitzufahren wäre noch besser. Unterwegs steht gar nichts still. Da ist alle Zeit der Welt. Da ist es völlig wurscht, was Fakt ist, was Idee und was vielleicht nur Traum, da ist nur eine Tatsache relevant: Der Kurze ist wirklich der Enkel und Oppa wahrhaftig sein Oppa. Darüber hinaus sind die Familienverhältnisse nun mal schwierig.
Oppas Stiefvater ist dessen tatsächlicher Stiefvater, aber Oppas Ur-Ur-Großtante ist die Urgroßmutter des Stiefvaters oder so ähnlich – verdammte Hacke, wer blickt da schon durch!? –, jedenfalls hat Oppa mehr Gene gemeinsam mit seinem Stiefvater als üblich in solchen Fällen. Dieser Stiefvater ist, wie Oppa, ein sächsischer Schiffer, Oppas Vater dagegen – immerhin, das ist bekannt – ein rheinischer Trompeter. Dein Stiefvater ist ein Ruhrpottmacker mit brandenburgischem Migrationshintergrund, dessen Vater ein schlesischer Nazi aus den obersten Parteiebenen oder ein mecklenburgischer Kleinkrimineller, der am Galgen endet oder ein bayrischer Jude, ein Lederhosenschneider, der nach Feuerland flüchtet, oder Johannes Heesters, die Mutmaßungen schießen ins Kraut. Dein Vater ist ein deutsch-dänischer Bäcker, dessen Vorväter zur See fahren und Wale fangen, aber das weiß der Kurze noch lange nicht, als er zusammen mit den Astronauten und Oppa auf der Schleuse steht. Auch nicht, dass es in dieser Familie oft viel mehr auf die Mütter ankommt. Ihren Namen übertragen die Mädels im Zweifelsfall ohne Trauschein auf ihre Blagen: Gelbhaar. Das ist weder blond noch jüdisch, es ist der Name einer sächsischen Großfamilie von Gutsbesitzern, die einmal Schiffe hatten, Steinbrüche, Mühlen und nicht schlecht davon lebten. Auch davon weiß der Kurze noch gar nichts.
Väter scheinen ohne Bedeutung zu sein für Oppa und den Kurzen. Sie haben einander, das reicht. Niemand erzählt ihnen jemals irgendwas Substantielles über ihre Samenspender. Wollte man mehr erfahren, müssten Rauch- und Trommelzeichen ausgesendet werden. Die Omma in der Küche quatscht den ganzen Tag. Was Fragen der Spargelernte vor sechzig Jahren betrifft, erfährt man von ihr, wer mit wem und warum jahrelang Krach hat in der Familie, darüber herrscht kein Zweifel. Wohin der Kaiser flieht, dass ihr kleines Dorf in Sachsen nach dem großen Krieg von Vierzehn-Achtzehn elektrifiziert wird und was für schlimme Verbrecher die Nazis sind, das alles erzählt Omma. Über ein paar nicht unwesentliche Fragen der Sippenhistorie herrscht Sprachlosigkeit. Wen sollte der Kurze auch fragen, wenn er wollte, und wie? Alle Verwandten leben weit, weit weg, im bestverwanzten Land der Welt, in dieser Ostzone: in der DDR. Die haben keine Astronauten und nicht mal Telefon.
Sonntagmorgen. Frau Claaßen und Herr Gelbhaar bereiten ihr Frühstück vor. Herr Gelbhaar hat gerade den Eierkocher eingeschaltet und versucht nun, diesen aus der Vogelperspektive zu fotografieren. Er beugt sich, seine Kamera in der Hand, über den Eierkocher und zoomt dicht an den Deckel desselben heran. Im Radio singt Aretha Franklin „A Deeper Love“. Frau Claaßen staunt.
„Wat machst du denn da fürn Scheiß!?? Wat knipste den Eierkocher, wat soll dat denn?“
„Birgit hat Geburtstach.“
„Und da knipste den Eierkocher für? Du has´n Ei am wandern has´ du!“
„Birgit hat `n runden Geburtstach.“
„Ja, und!!???“
„Der is´ Ostern, der Geburtstach.“
„Und wie alt wird die?“
„Glaub ich jedenfalls, irgendwie um Ostern rum hat die, irgendwat mit April, jedenfalls getz irgendwann oder so.“
„Und wie alt wird die getz?“
„2004 war ich bei ihr au´m Sechzichsten.“
„Dann wird die... ähm... Hömma, du Genie, dann is dat doch nich´ rund!“
„Wohl. Kuck! Is´ rund.“
„Wat?“„Dat Loch.“
„Wat für´n Loch?“
„Dat vom Deckel.“
„Wat für´n Deckel?“
„Boah, Alte, wer hat hier´n Ei am wandern!?? Wat fotografier ich denn hier?“
„Den Eierkocher.“
„Nee. Den Deckel davon.“
„Und den bestellze dann im Netz, den Deckel, und schenks´n Birgit zum Geburtstach?“
„Nee, ich schick ihr dat Foto und `n Link für Amazon, damitse sich den Deckel selber bestellen kann und die Links für die Eier und den Kochpott gibbet dann Weihnachten, du Intelligenzbestie!“
„Boaah, verarschen kann ich mich selber, mach doch watte willz, du Panhas! Aber der Geburtstach is nich´ rund!“
„Dann eben halbrund!“
„Und Eier sind au´ nich´ rund!“
„Dat Loch aber!“
„Dat im Eierkocher?“
„Im Deckel! Im Deckel vom Eierkocher, du Nuss!“
„Du meinz wohl, weile Abi has´, kannze hier den ganzen Tach klugscheißen!!??“ „Aber selber...!!! Rund, halbrund, blabla...“
„Is´ja auch nur halbrund, der Geburtstach!“
„Der Deckel kommt ja auch nicht komplett ins Bild!“
„Aber dat Loch!!???“
„Wenne mich weiter so volllabers´, komm´ ich komplett aus´n Konzept!“
„Haha! Wat´n für´n Konzept!??“
„Os-tern! Und dazu Ge-buats-tach! Dat is dat Konzept! Dat muß irgendswie innet Bild! Zusammen! Dat is´n Kon- zept! Ei wie Ostern und rund wie Geb...“
„Halb-rund!“
„Dann eben halbrund, jedenfalls muss dat Foto so!“
„Wie, so???“
„Na, mit Ei! Ostern - Ei. Geburtstach - Werden, Sein, Ei. Geburt.“
„Bei dir hamse aber die Nachgeburt aufgezogen!“
„Boaah, weisse, wat du mich ma kannz, aber kreuz und quer und achtkantig und mit Schmackes, ja!!??“
Herr Gelbhaar drückt jetzt zweimal den Auslöser seiner Kamera. Dann beginnt der Eierkocher, mit steigendem Druck Wasserdampf durch das Loch in seinem Deckel zu jagen. Frau Claaßen steckt zwei Scheiben Toast in den Toaster und drückt dessen Gabel nach unten. Bald pfeift schrill der Eierkocher. Zwei mittelhart gekochte Hühnereier sind fast verzehrfertig. Frau Claaßen hebt den Deckel vom Gerät, sie greift nach dem Sieb mit den zwei Eiern darin, hält kurz inne, als sie bereits zum Spülbecken schwenken will, und bemerkt:
„Wenne von oben draufkucks´, sindse irgendwie doch rund, so Eier...“
Überrascht sieht Herr Gelbhaar seine Frau an. Ihre Brille ist vom Wasserdampf stark beschlagen. Es ist der Sonntag vor Ostern. Er könnte, denkt er, Birgit auch eine CD schenken. Die wäre rund. Wie ihr Geburtstag es nicht ist. Denn freilich weiß er, dass Frau Claaßens Einwand berechtigt war. Vor Ostern ist Karfreitag, da serviert Frau Claaßen immer Fisch mit Spinat. Den Spinat serviert sie, nicht wie es Sitte war bei der seligen Großmutter Gelbhaar, ohne Spiegelei. Wenn er nur das exakte Datum dieses Geburtstags so genau wüsste wie all dies... Nach dem Frühstück trägt er seine Kamera zum PC, schließt sie an und sichtet das Resultat seiner fotografischen Bemühungen. Er sieht am Monitor das Bild eines Lochs. Darunter etwas Weißes. Was genau es vorstellt, lässt sich nicht sicher ausmachen.
Sanne - HH 12/06/2021 21:21
"Schreibblockade".....aber das Licht ist schön....SanneAshani 12/06/2021 18:26
So geht Homeoffice?LG Ashani
March Dafra 12/06/2021 18:13
KlasseVG Markus
kirbreton 12/06/2021 14:18
Insgesamt gefällt mir das Bild sehr gut. Trotzdem finde ich Kleinigkeiten etwas störend. Weshalb steht die Tischlampe kippelnd auf dem Füller?Der weiße Knopf wäre vollständig hinterm Glas besser platziert. Am linken Bildrand frage ich mich, was das ist . . . . eine Stehlampe?
Gruß kirbreton
Bea Dietrich-Gromotka 12/06/2021 13:37
..ein schönes intensives Lichtbild !aeschlih 12/06/2021 12:31
Feiner Einblick...Globe58 12/06/2021 11:46
Das ist ein einer sehr besonderen Stimmunginszeniert und gefällt mir sehr, sehr gut!
LG
Globe
gelbhaarduisburg 12/06/2021 11:18
Super-Foto!!! Wenn ich jetzt noch was Geschriebenes drunter stellen wollte... also, lyrisch, so wie du, bin ich nur noch sehr selten unterwegs. Hier sind mal zwei kurze Sachen aus meiner Werkstatt. Einer zum Schmunzeln. Der untere. Der andere ist die Einleitung zu meiner Familiengeschichte...1971. Der Kurze
Friedrichsfeld / Wesel (Ruhrgebiet)
Am liebsten spielt er mit zwei Plastikastronauten aus einer Wundertüte. Die hält er in der Luft, macht „Phhhhhhhhh…“ und sieht zu, wie sie durchs Weltall schweben und schwanken. Im Fernsehen guckt er den Spatz vom Wallraffplatz, die Bezaubernde Jeannie, die Hitparade, die Raumpatrouille Orion. Im Herbst hilft er seiner Omma, die Briketts für den Winter im Keller zu stapeln, im Sommer fährt er mit ihr in die Brombeeren. Das ganze Jahr über guckt er morgens aus dem Fenster und sieht Dutzende Männer mit Hüten auf den Köpfen, die auf Fahrrädern durch das Tor einer großen Fabrik fahren. Manchmal bringt ihn Omma zur Bushaltestelle an der B8, dann besucht der Kurze Helga, seine Mutter. „Omma“ wird hier in der Gegend eine Oma genannt, „Oppa“ ein Großvater, „Kurze“ sind Kinder, „der Kurze“, das bist du. Mütter sind Mütter und diese deine Mutter holt den Kurzen vom Bus ab, nimmt ihn bei der Hand, es geht quer durch die City von Wesel. Am Kornmarkt reißt der Kurze sich los. Er steckt die Nase durch Lücken morscher Bretterzäune, dahinter sind Mauerreste, Gruben voller Schutt. Kinder kraxeln durch die Trümmer, die Archäologen von morgen. Was ist das da? „Spuren humanoiden Lebens“, analysieren die Astronauten. Da willst du auch hin. „Dat is noch vom Kriech“, sagt Helga, „da darfsse nich´ rein, is´ verboten, viel zu gefährlich!“ Zu Hause reden Omma und Oppa immer wieder darüber, über diesen blöden Krieg. Omma in Sächsisch, Oppa auf Deutsch. Jeden Tag, obwohl das jetzt schon mehr als zwanzig Jahre her ist. Helga wohnt im dritten Stock eines nüchternen Backsteinbaus in Sichtweite der Trümmer. Der Kurze hat einen Stiefvater, Karl-Heinz, der haust da auch, ebenso Heidi, seine kleine Schwester, die scheißt noch in die Windeln. Die Wohnung ist schlicht, ein Korridor, drei Räume, durch die Küche geht es auf einen Balkon. Draußen stinkt es, wenn der Wind ungünstig steht, das kommt von den Ausdünstungen einer Futtermittelfabrik, die steht mitten im Hafen. Sie gehen da manchmal hin, zum Rhein, Helga und ihre zwei Blagen. Auch da stehen Trümmer, eine Eisenbahnbrücke war das mal, ein Pfeiler steht dicht am Ufer, „Warnung für Dampfschiffe“ steht darauf geschrieben, ein zweiter hat nasse Füße, der steht noch im Wasser. Zu Hause belagern solche Trümmer die Spundwände des Wesel-Datteln-Kanals.
Sie wohnen alle dicht am Wasser. Helga, Karl-Heinz und Heidi gleich hier am Rhein. Omma, Oppa und der Kurze ein paar Kilometer weiter südlich, in Friedrichsfeld, unweit des Kanals. Man muss ja weg kommen können von hier. Das ist wichtig in dieser Familie. Sollte man das hier überhaupt so nennen können, „Familie“. Ist der Kurze mal für einen Tag bei seiner Mutter, sitzt Karl-Heinz immer in einem Sessel, hört laut Symphoniekonzerte und Marschmusik aus einem nachtschrankgroßen alten Röhrenradio, liest Zeitung, säuft eimerweise Bier, quatscht unentwegt über Fußball, seinen MSV Duisburg, und prahlt bei jeder Gelegenheit mit seinem großen Latinum. Zu Hause hört Oppa nur beim Frühstück Radio. Die Wasserstandsmeldungen des Deutschlandfunks. Da muss man ganz leise sein, wenn der Sprecher monoton deklariert: „Rhein: Koblenz minus eins, Köln minus zwei, Düsseldorf minus zwei...“. Oppa kann kein Latein, aber den Spruch seiner Zunft, das Mantra der Schiffer, hat er in zwei blank polierte Holzplatten fräsen und über der Theke seiner Stammkneipe aufhängen lassen. VIVERE NON EST NECESSE. NAVIGARE NECESSE EST. Der Spruch geht eigentlich noch weiter, passt aber nur abgekürzt auf die Holzplatten und soll wohl bedeuten, dass das Leben völlig sinnlos ist, wenn man nicht reisen kann. Wenn Oppa verreist – das tut er regelmäßig, er bessert seine Rente mit Lotsenfahrten auf –, dann sitzt der Kurze bei Omma in der Küche, wo Omma sächsische Quarkkeulchen brät, Marmelade kocht und den ganzen Tag erzählt. Von früher, als sie ständig auf Reisen waren mit ihrem Schiff. Vom Krieg. Vom ersten Krieg, vom zweiten Krieg, von KZs, vom Kaiser und so. Ist Oppa zu Hause und geht in die Kneipe, nimmt er den Kurzen mit. Der wird da auf ein Kissen gesetzt, damit er über die Tischplatte des Stammtischs gucken und nach seinem Glas Limo greifen kann. Die alten Männer vom Schifferverein quatschen vom Schifffahren und von Politik. Von Fußball verstehen die anscheinend nix. Ist auch besser so: Fußball kann Oppa nicht leiden, so wie er seinen Schwiegersohn nicht leiden kann. Karl-Heinz ist, Gott sei Dank, nicht der Vater seines Enkels. Den kennt der Kurze nicht. So wie er selbst, der Schiffer, seinen Vater nicht kennt. Was wiederum das einzige ist, das er mit Karl-Heinz gemeinsam hat. Wahrscheinlich, das könnte der Kurze aus all dem schließen, was die Schiffer so labern, sind diese Väter alle in irgendeinem Krieg geblieben oder vor lauter Langeweile verendet, weil sie nicht verreisen konnten. Überhaupt sind aus der Familie, was wohl der Lauf der Dinge zu sein scheint, viele schon tot oder man hat Krach mit ihnen, schneidet sie oder sie wohnen so weit weg, dass man verreisen muss, um sie mal zu sehen. Immer im Sommer fährt der Kurze mit Omma und Oppa in die Ostzone, wo Ommas und Oppas Schwestern und Brüder, die ganzen Tanten und Onkel seiner Mutter mit ihren Kindern wohnen.
Am liebsten stehen sie gemeinsam auf der Brücke der Schleuse, Oppa und der Kurze. Da scheint die Zeit still zu stehen. Im Kofferradio des Schleusenwärters singt Tony Marshall das Lied von der schönen Maid. Schiffe wechseln vom Kanal in den Rhein, vom Rhein in den Kanal. Wasser wird abgepumpt, Wasser wird zugepumpt, weiße Schaumkronen schwimmen auf graugrüner Brühe, Tanker und Frachter kriechen aus den Schleusenkammern. Die Tore schließen sich, die Tore gehen auf. Zugucken könnte man bis tief in die Nacht! Nur mitzufahren wäre noch besser. Unterwegs steht gar nichts still. Da ist alle Zeit der Welt. Da ist es völlig wurscht, was Fakt ist, was Idee und was vielleicht nur Traum, da ist nur eine Tatsache relevant: Der Kurze ist wirklich der Enkel und Oppa wahrhaftig sein Oppa. Darüber hinaus sind die Familienverhältnisse nun mal schwierig.
Oppas Stiefvater ist dessen tatsächlicher Stiefvater, aber Oppas Ur-Ur-Großtante ist die Urgroßmutter des Stiefvaters oder so ähnlich – verdammte Hacke, wer blickt da schon durch!? –, jedenfalls hat Oppa mehr Gene gemeinsam mit seinem Stiefvater als üblich in solchen Fällen. Dieser Stiefvater ist, wie Oppa, ein sächsischer Schiffer, Oppas Vater dagegen – immerhin, das ist bekannt – ein rheinischer Trompeter. Dein Stiefvater ist ein Ruhrpottmacker mit brandenburgischem Migrationshintergrund, dessen Vater ein schlesischer Nazi aus den obersten Parteiebenen oder ein mecklenburgischer Kleinkrimineller, der am Galgen endet oder ein bayrischer Jude, ein Lederhosenschneider, der nach Feuerland flüchtet, oder Johannes Heesters, die Mutmaßungen schießen ins Kraut. Dein Vater ist ein deutsch-dänischer Bäcker, dessen Vorväter zur See fahren und Wale fangen, aber das weiß der Kurze noch lange nicht, als er zusammen mit den Astronauten und Oppa auf der Schleuse steht. Auch nicht, dass es in dieser Familie oft viel mehr auf die Mütter ankommt. Ihren Namen übertragen die Mädels im Zweifelsfall ohne Trauschein auf ihre Blagen: Gelbhaar. Das ist weder blond noch jüdisch, es ist der Name einer sächsischen Großfamilie von Gutsbesitzern, die einmal Schiffe hatten, Steinbrüche, Mühlen und nicht schlecht davon lebten. Auch davon weiß der Kurze noch gar nichts.
Väter scheinen ohne Bedeutung zu sein für Oppa und den Kurzen. Sie haben einander, das reicht. Niemand erzählt ihnen jemals irgendwas Substantielles über ihre Samenspender. Wollte man mehr erfahren, müssten Rauch- und Trommelzeichen ausgesendet werden. Die Omma in der Küche quatscht den ganzen Tag. Was Fragen der Spargelernte vor sechzig Jahren betrifft, erfährt man von ihr, wer mit wem und warum jahrelang Krach hat in der Familie, darüber herrscht kein Zweifel. Wohin der Kaiser flieht, dass ihr kleines Dorf in Sachsen nach dem großen Krieg von Vierzehn-Achtzehn elektrifiziert wird und was für schlimme Verbrecher die Nazis sind, das alles erzählt Omma. Über ein paar nicht unwesentliche Fragen der Sippenhistorie herrscht Sprachlosigkeit. Wen sollte der Kurze auch fragen, wenn er wollte, und wie? Alle Verwandten leben weit, weit weg, im bestverwanzten Land der Welt, in dieser Ostzone: in der DDR. Die haben keine Astronauten und nicht mal Telefon.
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Das Halbrund
Sonntagmorgen. Frau Claaßen und Herr Gelbhaar bereiten ihr Frühstück vor. Herr Gelbhaar hat gerade den Eierkocher eingeschaltet und versucht nun, diesen aus der Vogelperspektive zu fotografieren. Er beugt sich, seine Kamera in der Hand, über den Eierkocher und zoomt dicht an den Deckel desselben heran. Im Radio singt Aretha Franklin „A Deeper Love“. Frau Claaßen staunt.
„Wat machst du denn da fürn Scheiß!?? Wat knipste den Eierkocher, wat soll dat denn?“
„Birgit hat Geburtstach.“
„Und da knipste den Eierkocher für? Du has´n Ei am wandern has´ du!“
„Birgit hat `n runden Geburtstach.“
„Ja, und!!???“
„Der is´ Ostern, der Geburtstach.“
„Und wie alt wird die?“
„Glaub ich jedenfalls, irgendwie um Ostern rum hat die, irgendwat mit April, jedenfalls getz irgendwann oder so.“
„Und wie alt wird die getz?“
„2004 war ich bei ihr au´m Sechzichsten.“
„Dann wird die... ähm... Hömma, du Genie, dann is dat doch nich´ rund!“
„Wohl. Kuck! Is´ rund.“
„Wat?“„Dat Loch.“
„Wat für´n Loch?“
„Dat vom Deckel.“
„Wat für´n Deckel?“
„Boah, Alte, wer hat hier´n Ei am wandern!?? Wat fotografier ich denn hier?“
„Den Eierkocher.“
„Nee. Den Deckel davon.“
„Und den bestellze dann im Netz, den Deckel, und schenks´n Birgit zum Geburtstach?“
„Nee, ich schick ihr dat Foto und `n Link für Amazon, damitse sich den Deckel selber bestellen kann und die Links für die Eier und den Kochpott gibbet dann Weihnachten, du Intelligenzbestie!“
„Boaah, verarschen kann ich mich selber, mach doch watte willz, du Panhas! Aber der Geburtstach is nich´ rund!“
„Dann eben halbrund!“
„Und Eier sind au´ nich´ rund!“
„Dat Loch aber!“
„Dat im Eierkocher?“
„Im Deckel! Im Deckel vom Eierkocher, du Nuss!“
„Du meinz wohl, weile Abi has´, kannze hier den ganzen Tach klugscheißen!!??“ „Aber selber...!!! Rund, halbrund, blabla...“
„Is´ja auch nur halbrund, der Geburtstach!“
„Der Deckel kommt ja auch nicht komplett ins Bild!“
„Aber dat Loch!!???“
„Wenne mich weiter so volllabers´, komm´ ich komplett aus´n Konzept!“
„Haha! Wat´n für´n Konzept!??“
„Os-tern! Und dazu Ge-buats-tach! Dat is dat Konzept! Dat muß irgendswie innet Bild! Zusammen! Dat is´n Kon- zept! Ei wie Ostern und rund wie Geb...“
„Halb-rund!“
„Dann eben halbrund, jedenfalls muss dat Foto so!“
„Wie, so???“
„Na, mit Ei! Ostern - Ei. Geburtstach - Werden, Sein, Ei. Geburt.“
„Bei dir hamse aber die Nachgeburt aufgezogen!“
„Boaah, weisse, wat du mich ma kannz, aber kreuz und quer und achtkantig und mit Schmackes, ja!!??“
Herr Gelbhaar drückt jetzt zweimal den Auslöser seiner Kamera. Dann beginnt der Eierkocher, mit steigendem Druck Wasserdampf durch das Loch in seinem Deckel zu jagen. Frau Claaßen steckt zwei Scheiben Toast in den Toaster und drückt dessen Gabel nach unten. Bald pfeift schrill der Eierkocher. Zwei mittelhart gekochte Hühnereier sind fast verzehrfertig. Frau Claaßen hebt den Deckel vom Gerät, sie greift nach dem Sieb mit den zwei Eiern darin, hält kurz inne, als sie bereits zum Spülbecken schwenken will, und bemerkt:
„Wenne von oben draufkucks´, sindse irgendwie doch rund, so Eier...“
Überrascht sieht Herr Gelbhaar seine Frau an. Ihre Brille ist vom Wasserdampf stark beschlagen. Es ist der Sonntag vor Ostern. Er könnte, denkt er, Birgit auch eine CD schenken. Die wäre rund. Wie ihr Geburtstag es nicht ist. Denn freilich weiß er, dass Frau Claaßens Einwand berechtigt war. Vor Ostern ist Karfreitag, da serviert Frau Claaßen immer Fisch mit Spinat. Den Spinat serviert sie, nicht wie es Sitte war bei der seligen Großmutter Gelbhaar, ohne Spiegelei. Wenn er nur das exakte Datum dieses Geburtstags so genau wüsste wie all dies... Nach dem Frühstück trägt er seine Kamera zum PC, schließt sie an und sichtet das Resultat seiner fotografischen Bemühungen. Er sieht am Monitor das Bild eines Lochs. Darunter etwas Weißes. Was genau es vorstellt, lässt sich nicht sicher ausmachen.
Für Birgit zum Geburtstag
April 2019
kristofor 12/06/2021 10:46
Edel.Markus Novak 30/11/2015 18:03
STARKLG markus
bejean04 25/11/2014 17:13
Beeindruckend! starkes Bild!LG Betty
Henry Holtwick 20/10/2014 8:22
Eine wirklich schöne Komposition.Tolles Licht.
LG Henry
Matthias Keschke 18/10/2014 22:00
Schön komponiert...Gruß Matthias
Diana de Saxe 30/11/2013 14:20
Sehr stimmungsvolle Aufnahme, schoen zurueckhaltend ausgeleuchtet. Vor allem die Gravur im Whiskeyglas gefaellt mir. Ein richtiger Eyecatcher.LG, Diana.
Bärbel7 30/11/2013 13:23
Hervorragend! Gruß Bärbel