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Denise 85


Premium (Basic), Schaffhausen

Abschied

Heute war ich guter Dinge. Die Sonne drang durch die Wolken und heute besammeln sich doch alle zu Johanna's grossem Tag. Ihr Gott hat sie zu Beginn der Woche endlich zu sich geholt, wie es schon einige Zeit ihr Wunsch war. Traurig zu sein hat heute nur den eigenen Verlust eines im Herzen eingeschlossenen Menschen zu Grunde. Für diesen Menschen jedoch tat sich der lang ersehnte Himmel auf.
Mit diesen Gedanken und fast einem Lächeln im Gesicht betrat ich den Friedhof. Ich entdeckte, dass meine Grosseltern ebenfalls anwesend waren und stellte mich zu ihnen hin. "Hast du sie schon gesehen?", fragte Grossvater. "Nein", sagte ich, "ich möchte nicht. Mir reicht der Blick auf den Sarg." Er erwiderte: "Geh ruhig. Sie sieht sehr schön aus, wie auf dem Bild in der Zeitung. Gib ihr doch noch das Weihwasser." Für mich, wie soll ich sagen, haben religiöse Handlung nicht sehr viel Bedeutung. Aber Johanna war eine sehr gläubige Christin. Viele Jahre lang schmückte sie die St. Leonhardskapelle in liebevollster Weise mit Blumen aus ihrem eigenen Garten. "Reiss dich zusammen", dachte ich, "tu's für sie." Mir gingen Kriegsbilder aus dem Fernsehen durch den Kopf, die schrecklichen Kriegsvideos, die wir im Geschichtsunterricht ansehen mussten, aufgeschlitzte Stabheuschrecken, Schweine- und Kuhaugen aus dem Biounterricht. Mir ging ein Bild von Ötzi durch den Kopf. Diese Gedanken verdrängte ich schnell, schob sie in die hinterste Ecke meines Gehirns. Trotzdem zögernd zupfte ich meinen Bruder am Ärmel. "Komm, wir gehen zu ihr und geben ihr das gesegnete Wasser." Ich ging voraus, zum aufgebahrten Sarg mit dem offenen Fenster hin. Das Lächeln verschwand aus meinem Gesicht und ein fast unerträglicher Druck versuchte, mein Herz zu umklammern und es vom pulsieren abzuhalten. Ich griff zum Weihwasser-Beselchen und schaute vorsichtig über den Rand des Fensters, im Kopf stets den Gedanken "Sie sieht schön aus, wie auf dem Bild in der Zeitung!". Ich konnte schon ein paar schneeweisse Haare sehen. Ich beugte mich weiter über den Sarg und sah ein bisschen Haut ihres blassen Gesichtes. Ihr Gesicht war schon zu Lebzeiten blass. Und dann sah ich ein Auge. Geschlossen. Sie sah nicht aus wie auf dem Bild in der Zeitung! Das Bild war schwarz/weiss und flach! Des Gesicht hinter diesen engen Holzwänden hatte drei Dimensionen und war, wenn auch blass, farbig! Das war ein Mensch! In dem Moment schossen mir die Tränen in die Augen. Da lag der Mensch, den ich als Kind so oft besucht hatte, den ich so tief in mein Kinderherz eingeschlossen habe! Da lag der Mensch, den ich nach meiner Kinderzeit, wenn auch selten, aber trotzdem ab und zu im Altersheim besucht habe! Der Mensch, dessen Leiden mir bei jedem Besuch sehr nahe ging! Meine Kraft reichte nur noch, um das Weihwasser-Beselchen, das immer noch irgendwie in meiner Hand weilte, einmal auf den Sarg, auf das kleine Fenster, hinter dem ich das geschlossene Auge sah, fallen zu lassen und mehr schlecht als recht noch so in der Hand zu halten, dass es nicht zu Boden fiel. Als ich mich wieder gefasst hatte, legte ich es zurück in das Weihwassergefäss. Ich habe noch nie zuvor einen toten Menschen gesehen. Eine zierliche, ältere Frau kam auf mich zu und nahm meine Hand. Sie kam mir bekannt vor. Es war wohl die "Yvonne" aus der Todesanzeige. Ich habe sie einige Male gesehen, als ich bei Johanna zu Besuch war. Sie kümmerte sich viel um sie. Yvonne sagte: "Ich weiss Ihren Namen nicht mehr, aber Sie sind das Mädchen, das zu Besuch kam." "Ja", sagte ich", Denise."

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"Von guten Geistern wunderbar bewacht, erwarten wir getrost, was kommen mag."
(Dietrich Bonhoeff)
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In diesem Haus...
In diesem Haus...
Denise 85


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Ein trauriger Anblick
Ein trauriger Anblick
Denise 85

Commenti 2

  • Fleur de Sel 27/05/2006 15:31

    ein sehr bewegender Text, mit passendem Foto.
    Ja, so ein Gang ist nicht einfach, kostet viel Kraft.
    Ich finde es eine sehr gute Idee, auf diese Art und Weise die Trauer zu bewältigen...
    LG Marlies
  • U. Bechstein - Photography 26/05/2006 17:17

    sehr schön geschrieben Denise. Den ersten Toten im Leben zu sehen, das ist schon hart........Mir ging es auch nicht anders.....Nur meinen ersten habe ich an meinem allerersten Arbeitstag gesehen, schon lange her, und er sprang vor meiner Nase direkt aus dem Fenster....das hatte ich lange daran zu knacken....