Amsterdam 1980
Amsterdam, Grachten, Scan aus Farbdia von 1980.
Auszug aus meinem Reisetagebuch:
"In Unterhosen von Amsterdam nach Nürnberg"
Markus Bibelriether Copyright Text
Januar, 1984. Peter und ich fuhren mit dem Intercity von Nürnberg nach Amsterdam. Als der Zug auf die Stadt zustrebte, war es bereits Nacht, obwohl es erst Nachmittag war. Regenwasser rann die Scheiben hinab. Beim Blick aus dem Zugfenster war von der Landschaft, die vorüber zog nur noch das eigene blasse Gesicht zu sehen. Amsterdam. Bevor wir den Bahnhof in verließen, tranken wir in der Bahnhofswirtschaft noch einen Kaffee, schwarz und bitter. Er hinterließ im Mund einen üblen Geruch, der einem jeden Gegenüber das Gesicht entgleiten lassen musste. Wir standen auf dem kalten, grauen Bahnsteig, der zugig war. Es regnete einen kalten Januar-Regen. In der Nähe des Bahnhofes sollte es eine billige Unterkunft geben, meinte Peter. Er hatte da zu Hause irgendwas in einem Reiseführer gelesen.
Auf der Suche danach waren wir nahe dem Bahnhof in eine schmale Gasse eingebogen. Regen flog an den Straßenlaternen vorbei. Ein atlantischer Tiefdruck-Ausläufer traf gerade auf die holländische Hauptstadt und auf Peter und mich. In der Gasse waren Menschen unterwegs, die sich scheinbar ziellos umher bewegten, fast wie schwarze Engel, die schwerelos an Fäden zu hängen schienen. In den Hauseingängen glänzten nasse Regenjacken, aus denen dünne Schwaden Rauch aufstiegen. Schwarze Jacken verschmolzen mit der Schwärze der Schatten. Es waren blaugraue Fäden, die sich in der regennassen Luft kaum verflüchtigen konnten. Noch nachdem ich schon zwanzig oder dreißig Schritte an den rauchenden Jacken vorbei war, hatte ich den süßlichen Duft in der Nase, diesen Duft, der entsteht, wenn Leute zusammensitzen, etwas rauchen und reden. Zusammensitzen, rauchen und reden. Nicht in einem nasskalten Hauseingang, im Januar in Amsterdam. Diese Gasse in der wir uns befanden war nicht gut beleuchtet. Diese Finsternis, die Menschen, die herumhingen und auf etwas zu warten schienen, die Luft, die statisch aufgeladen war, gespannt war. Urinstinkte, hunderttausend Jahre alt, sind es, die einen Menschen dazu bringen, sich bedroht zu fühlen, sich umzusehen, obwohl da nichts ist. Wir fühlten uns beide schon ein paar Minuten lang bedroht, hatten jeder für sich Angst ohne panisch zu sein. Das musste etwas sein, das uns vom Tier unterschied, also die Kontrolle nicht zu verlieren. Der Herzschlag etwas beschleunigt, eine gewisse Enge in der Brust und die Schritte ein wenig schneller auf dem nassen Pflaster in dieser Gasse in Amsterdam. Zusammensitzen, Gras rauchen und reden. Kein beschleunigter Herzschlag, keine Enge in der Brust, kein schneller werden. Kein nasskalter Januar
Beuteschema. Ein Rudel Wölfe, dass auf ein Signal von Schwäche wartete, trieb sich in der Dunkelheit herum. Dieses Signal mussten Peter und ich schließlich ausgesandt haben, denn hinter uns her sind zwei Gestalten geschlendert, so geschlendert, wie man es in einer finsteren Gasse, im strömenden Regen, wo es keine Schaufenster, keine Kneipen, wo es nichts gibt, nicht tun würde schon gar nicht im januar-kalten Amsterdam. Waren es die leicht beschleunigten Schritte, die zumindest bei Hunden einen Jagdinstinkt auslösen, oder der Geruch? Der Geruch des Schweißes, der sich verändert. Wer Angst hat fängt an zu schwitzen und dann zu stinken. Meine Herzfrequenz wurde schneller als wir uns drei Personen näherten, die in der Mitte der Straße standen, die Gesichter zueinander gewandt, aber die Augen in Wirklichkeit auf Peter und mich gerichtet, die Hände in den Taschen. Ich konnte für einen Moment das Weiße in ihren Augen sehen. Ihre Hände umfassten in ihren Hosentaschen Klappmesser, das stellte ich mir vor. Die realen Bilder aus der Umgebung werden durch eigene, imaginäre Bilder ergänzt. Bilder im Kopf: Dunkle, feuchte Gasse, Gestalten, Klappmesser. Niemand stellt sich freiwillig in einen solchen kalten Scheißregen. Die Kleidung war nass, vom Regen und vom Schweiß. Das Rudel zog seine Schlinge enger zusammen, bis zum ersten Kontakt. Der kam zustande als wir die drei in der Mitte der Straße erreicht hatten. Meine Hände taten es den Händen der anderen nach, waren auch in den Hosentaschen verschwunden.
Bilder im Kopf: Dunkle Gestalten in nassen Jacken in einer finsteren Gasse. Jemand bewegte den Mund. Mir pochte der Kopf. Es war wie in einem Traum. Erst hörte ich nichts, dann eine Sprache, die ich nicht verstand. Ihre Jackenkapuzen hatten sie bis über die Ohren und tief in die Stirn gezogen. Ich erkannte die glänzenden Regenjacken aus dem Hausgang wieder. Aus dem Inneren der schwarzen Jacken waren blanke Zähne zu erkennen und das Weiße in den Augen. Sie gaben das Licht der Laternen wider. Wasser Tropfte von den Kapuzen der Jacken. Ein Mund bewegte sich. Es war wie in einem Traum, in dem zwar gesprochen wird, aber alles dumpf ist und nichts zu verstehen ist, aber dennoch eine Botschaft übermittelt wird. Peter und ich waren Marionetten. Jemand zog Fäden. Instinkte zogen die Fäden. Lippen bewegen sich hinter einer Panzerglasscheibe. Ich verwarf den Gedanken, unsere Reise nach Indonesien könnte schon im Anfang ihr Ende finden. Überfallen und blutend lag ich auf dem nassen Pflaster einer kalten, feuchten Gasse in Amsterdam. Fäden wurden gestrafft. Mein Gehirn machte sich selbständig. Ich sah mich für einen Augenblick in Unterhosen von Amsterdam nach Nürnberg fahren, im Intercity.
Eine Fotoausrüstung über der Schulter, nachts in irgendwelchen finsteren Gassen Amsterdams herumzulaufen! Im Bahnhof hätte es Schließfächer gegeben. Gemütlich in einer vielleicht etwas muffigen Plüsch-Ecke zusammen sitzen, Gras rauchen, reden.
Sie bewegten sich auseinander, während wir uns näherten. Als würde eine Fliehkraft sie aus ihrer Umlaufbahn tragen umringten sie uns. In dieser Galaxie waren Peter und ich das Schwarze Loch. Die Planeten stürzten uns entgegen. Ich war wütend auf mich selbst und auf Peter, der die Idee hatte ein Hotel in einem solchen Stadtviertel zu suchen. Die ersten Asteroiden konnten der Schwerkraft nicht widerstehen. Jemand rempelte mich. Ich erwachte aus meinem Traum. Jemand riss an den Fäden. Fliehkräfte würden mich jetzt aus einer Umlaufbahn werfen. So eine Art „Point of no return“ war überschritten. Was dann passierte, geschah reflexartig, in wenigen Sekunden. Erneut riss jemand an den Fäden und Peter und ich wichen ein paar Schritte zurück, aus dem Kreis heraus, derer die uns ausrauben wollten. Hinter unserem Rücken war jetzt die leere, nasse Straße. Meine rechte Hand umfasste in der Hosentasche eine kleine Dose. Mein Daumen schob die Plastiksicherung zur Seite und nahm die Hand mit der Dose nur halb aus der Hosentasche. Die Überraschung und der plötzliche Schmerz lähmte die Gestalten. Erstarrt wie Skulpturen für einen Moment. Einige krümmten sich und ich sah erst jetzt ein Messer in einer Hand.
Bilder im Kopf. Wir wandten uns um und liefen so schnell wir konnten die Straße hinunter, nur weg, raus aus der Finsternis, auf den erleuchteten Bahnhofsplatz. Die Fäden rissen und blieben lose in der Gasse zurück. Kein umsehen. In unseren Körpern zirkulierte jetzt eine Überdosis Adrenalin, meine Knie begannen sich selbstständig zu machen und zu zittern. Zwischen meinen Schuhsohlen und dem Straßenpflaster waren in diesem Moment ein paar Zentimeter Luft. Unsicher ging ich mit meiner schweren Fotoausrüstung an der Schulter auf das Bahnhofsgebäude zu. Bei der holländischen Bahnpolizei hörte man uns an. Die Polizisten waren nicht besonders Interessiert, es war ihr täglich Brot. Blöde Touristen. Sie stellten aber immerhin fest, dass Tränengasdosen in Holland nicht erlaubt sind und wir deshalb Schwierigkeiten bekommen könnten. In der Tat hatten wir Schwierigkeiten und hätten ohne die Scheißdose vielleicht sterben können! Die Polizisten sahen das ein und unternahmen nichts, weder in der Sache des versuchten Raubüberfalls, noch in der des unerlaubten Waffenbesitzes.
Weder Peter noch ich wollten noch einmal nach draußen um irgend ein Hotel zu suchen. Keine nasse, dunkle Gasse; Keine finsteren Gestalten im Hauseingang; kein Wecken von Urinstinkten. Einer der Polizisten gab uns daraufhin, die Erlaubnis uns bis zum Morgen im Bahnhof aufhalten zu dürfen. Wir suchten einen Warteraum auf dem Bahnsteig auf. Abwechselnd Dösen, während der andere wach war und auf die Sachen aufpassen konnte.
Mir fielen die Augen zu, Marionettenfäden hoben mich abermals auf. Die Dunkelheit verschwand. Lichter rasten am Zugfenster vorbei. Alles lautlos. Ich fuhr in Unterhosen mit einem Intercity von Amsterdam nach Nürnberg. In Zeitraffer jagte der Zug durch die Nacht. In Zeitlupe bildete sich eine Tränengaswolke zwischen mir und den schwarzen Jacken. Ich schreckte auf. Nur Minuten eingenickt aber schon Schweiß auf der Stirn. Ich wollte nicht mehr einnicken und ließ meinen Blick durch den Warteraum schweifen.
Abfall in den Ecken. Seltsame Menschen hielten sich in dem gläsernen, verdreckten Warteraum auf. Die Glasscheiben waren verschmiert, wohl jahrelang nicht geputzt worden.
Eine verwahrloste alterslose Frau in zerlumpter Kleidung und ein Jugendlicher, oder war er noch ein Kind, suchten den Boden nach weggeworfenen Zigarettenkippen ab. Zwei Männer waren auf ihren Stühlen schlafend zusammengesunken. Beide trugen sie mehrere Mäntel übereinander. Ihre Gesichter waren zugewachsen. Die verwahrloste, alterslose Frau zupfte nachher am Tisch die zusammengesammelten, alten Kippen auseinander, um sich dann aus den Tabakresten eine neue Zigarette zu drehen. Dies war nicht einfach. Ihre Schwarz geränderten groben, unruhigen Finger steckten in gestrickten Handschuhen deren Finger abgeschnitten waren, ähnlich denen, wie sie Marktfrauen manchmal tragen. Als es der Frau endlich gelungen war eine kleine Papierrolle zu formen und zitternd an die Lippen zu führen, um sie anzufeuchten, waren ein Teil der schwarzen und braunen Krümel an den beiden Enden der Papierrolle wieder herausgefallen. Der Mann, der ihr am nächsten saß war aufgewacht und wollte ihr ein brennendes Feuerzeug vor ihr Gesicht halten. Durch die Mäntel, die er übereinander trug, war er in seiner Bewegungsfreiheit sichtlich eingeschränkt, schaffte es aber dann doch ihr das Feuerzeug rüberzureichen, ohne vornüber zu kippen. Einen Augenblick später war die Kippe schon verglüht und verbreitete einen muffigen Gestank im Warteraum.
Die Frau kramte in einer billigen Handtasche aus Lederimitat, das an einigen Stellen gebrochen war. Sie wühlte und förderte so einen Lippenstift zu Tage. Sie begann sich die Lippen zu schminken, oder versuchte es zumindest. Durch das Zittern ihrer Hände und ihrer fahrigen Bewegungen wurde es eher ein Schmieren.
Ich hörte in der Ferne einen Zug. So wie man manchmal, wenn schlechtes Wetter aufzieht, nachts, bei offenem Fenster weit weg einen Zug hört. Ich sah den Mond durch das Zugfenster und mein eigenes, blasses Gesicht, das sich darin spiegelte. Lichter jagten vorbei, der Mond jagte nicht vorbei. Er reiste mit. Ich fror. Ich sah an mir hinunter und sah, dass ich in Unterhosen im Zug saß, im Intercity von Amsterdam nach Nürnberg. Der Zug entfernte sich. Lärm holte mich zurück in den Warteraum im Bahnhof von Amsterdam.
Polizisten mit Schlagstöcken standen im Warteraum. Sie weckten die Sandler durch leichtes Anstoßen mit dem stumpfen Ende ihrer Schlagstöcke. Alle mussten raus in die Kälte. Peter und ich durften sitzen bleiben. Auch der Abfall, leere Flaschen, Kippen und abgestandener, kalter Rauch durften bleiben.
Als es wieder still war, schlief ich sogleich ein. In Hauseingängen glänzten nasse Regenjacken, aus denen dünne Schwaden Rauch aufstiegen. Schwarze Jacken Eine nächtliche Gasse im Regen. Gestalten an Marionettenfäden kamen näher und umkreisen mich dabei. Ins Gesicht gezogene Kapuzen, von denen Wasser tropfte. Das Weiße in den Augen. Hände holten Messer aus den Hosentaschen. Ich laufe in Unterhosen durch die Gasse und sitze gleichzeitig Im Zug von Amsterdam nach Nürnberg. Ich schrecke auf und schwitze.
Am Morgen, der furchtbar grau, kalt und klamm war, fuhren wir mit dem ersten Bus zum Flughafen raus. Ich hatte den abgestandenen Geschmack von schlechtem Kaffee im Mund. Angelaufene Scheiben. Frösteln. Schiphol-Airport.
Elvi Gendig 13/08/2013 12:32
Lieber Markus, erst einmal zu Deinem Bild, das beeindruckend und eigenwillig in der Farbe, eine ganz besondere Faszination ausübt! Amsterdam, so, wie ich die Stadt nie gesehen habe. Du schaust hinter die Kulissen vom Touristenverkehr und entdeckst eigenwillige Schönheiten alter Häuserfassaden. Und nun zu Deinem Reisebericht, der mich gefesselt hat und den ich voller Spannung gelesen habe.Man durchlebt mit Dir diese Nacht, die von Ängsten ...wie durch an Fäden hängenden Marionetten erlebt wurde. Eine ganz fantastische Präsentation, wie man sie selten vorfindet...hab ganz lieben Dank dafür!Ich schick Dir liebe Grüße und wünsche Dir eine erfreuliche Woche!
Herzlichst
Elvi