Die Schwebenden - Rotbuchen, Nationalpark Jasmund, Rügen
Bäume an Hängen sind besonderen Belastungen ausgesetzt, das liegt auf der Hand und leuchtet schnell ein. Solange die Wurzeln unter der Bodenoberfläche liegen, besteht kaum Veranlassung, darüber nachzudenken. Erst wenn ein Hang ins Rutschen kommt und der Oberboden erodiert, sieht man, was darunter los ist.
Anders als ebene Erde sind Hänge, und erst recht gehölzbestandene, ständig in Bewegung. Die Bewegung muss dabei gar nicht sichtbar sein, um als Bewegung verstanden zu werden, meistens laufen diese Prozesse ohne erkennbare Veränderungen ab. Wo unten das Material verweht wird, wegrutscht oder ausgewaschen wird, wo grabende Tiere wie Fuchs und Dachs das ihre dazu beitragen, kann von oben oder von der Seiten neues nachgeliefert werden. Mal verliert die Böschung etwas an Stabilität, mal gewinnt sie mehr dazu, als sie benötigt – im Großen und Ganzen bleibt sie aber in einem mechanischen Gleichgewicht, jedenfalls solange der Hang nicht zu steil ist (für jedes Bodenmaterial kann man eine kritische Hangneigung berechnen).
Im unteren Abschnitt der Steilküste bei Lohme im Nationalpark Jasmund stehen Buchen, die sich offenbar im Stillen und sehr langsam darauf vorbereitet haben, dass die eigene Lebensgrundlage irgendwann einmal nachgeben wird. In dem Maße, wie der Hang in einem Spiel boden- und strömungsphysikalischer Prozesse nachgibt, haben die Buchen ihre eigenes Holzskelett aufgebaut, durch Querverstrebungen gefestigt und Wurzeln in weit entlegene Bereiche des Hanges gesandt. Dort arbeiten sie schon eine ziemlich lange Zeit als Zuganker der Schwerkraft entgegen, unterstützt von seitlichen Aufliegern, und bei begrenztem Baumaterial gestaltoptimiert. Es wird aber unaufhaltsam ein Zeitpunkt, in dem das System Biomasse / Bodenstruktur kollabieren wird. Um die Balance dennoch zumindest eine Weile aufrecht zu halten, können manche Baumarten geschwächte oder kritische Teile, Äste oder Stämmlinge, abwerfen; Linden und Eichen machen das oft, Buchen schaffen das in vielen Fällen auch. Niemand kann sagen, wie lange die kombinierte Struktur aus Stützen und Ankern in dem Hang halten wird, vielleicht ist es morgen vorbei, vielleicht auch erst in 50 Jahren. In jedem Fall können wir uns für die Optimierung technischer Bauteile eine ganze Menge bei Bäumen abgucken.
Gabi Paubandt 17/12/2021 17:41
Sehr schön mit dem herbstlichen Laub. Sehr fotogene Überlebenskünstler. LG Gabi