Lübeck: Drogerie Martin Redetzki 03
Bei meinem ersten Besuch in Lübeck 2012 – ohne jegliches Ziel oder gar einen Plan – zog mich wie schon oft im Leben ein unsichtbares Band ziemlich direkt an einen wichtigen Ort. Und dies, obwohl so viele andere Wege möglich gewesen wären. Ich bog also in die Pfaffenstraße ein und blieb im positiven Sinne fassungslos vor der Drogerie Grabner, Inhaber Martin Redetzki, stehen und guckte mir nur noch die Augen aus. In den großen Schaufenstern stapelten sich Drogerieartikel in Hülle und Fülle, „unmodernes“ und aktuelles, sinnvolles, wichtiges und auch mancher Artikel zum schmunzeln. Da waren Reinigungsmittel aller Art, vollbusige Wärmflaschen, ausgefallene Fußmatten, Badelatschen, Cremes- und Pflegemittel, allerlei Bürsten mit Kunststoff-, aber auch Naturborsten und so unzählbar vieles mehr. Es war drin was drauf stand: „Die kleine Drogerie, die alles hat“.
Natürlich machte ich sogleich etliche Aufnahmen der Schaufenster, auch mit dem Hintergrund der bitteren Erfahrung „Das Foto, das Du jetzt nicht machst, machst Du wahrscheinlich nie mehr“. Glücklicherweise fiel mir „rein zufällig“ ein, dass ich unbedingt ein Wäschenetz brauchte (diesbezüglich herrschte seinerzeit in anderen Lübecker Drogerien Notstand) und ich betrat den Laden. Es war umwerfend – man muss einfach da gewesen sein und diese ganze Fülle selbst erlebt haben. Nach langer Zeit wandte ich mich dann schließlich an den Mann hinter der Ladentheke und fragte nach einem Wäschenetz. Als Antwort kam die Gegenfrage, welche Größe es denn haben sollte. Da mich die Antwort „etwas“ überforderte, griff er zielsicher in eine der vielen Schubladen und legte mir eine Reihe von Wäschenetzen auf die Theke. Puhh – welche Auswahl – und ich dachte bisher, alle Wäschenetze hätten die gleiche Größe. Das also war meine erste Begegnung mit Martin Redetzki und ich ließ seit dem bei meinen Lübeck - Besuchen keine Gelegenheit aus, wenigstens irgendeine Kleinigkeit in der Pfaffengasse einzukaufen.
Als ich nun wieder einmal vorbei kam und mich auf die Schaufensterauslagen freute, fielen mir schon von weitem Zeitungsartikel, Fotos und Infoplakate an den Scheiben auf: Martin Redetzki war im Juni 2013 im Alter von 75 Jahren gestorben. So fotografierte ich erst einmal nichts und las alle Informationen gründlich durch. Martin Redetzki war ein toller, engagierter Mann, ein Original und ein positives Stück Lübecker Kulturgeschichte.
Die gute Nachricht: Die „Kleine Drogerie“ wird unter Führung der langjährigen Mitarbeiterinnen von Martin Redetzki in seinem Sinn weiterleben. Die „Mädels“ werden die Sache ganz bestimmt stemmen und so zum Erhalt eines der vielen Puzzelstückchen „Liebenswertes Lübeck“ beitragen – ich drücke alle Daumen.
Erfreulicherweise hat Nina Kossak am 11. 03.11 in „Unser Lübeck“ ein wundervolles Portrait des liebenswerten Martin Redetzki verfasst, wie man es gar nicht besser machen kann – einfach klasse. Ich hänge den Artikel daher als Zitat unter meine Bilder.
Die Fotos Nummer 01 und 02 zeigen die Schaufensterfront, 03 und 04 die kleinen Fenster mit alten Bildern und vor allem der aktuellen Information, dass es weiter geht. Nummer 5 zeigt Martin Redetzki ein bisschen, wie er gelebt hat: Zwischen Cremes, Badekappen, Blechente und den ganzen Kostbarkeiten seiner „Kleinen Drogerie“ ….
Hier also das Portrait von Nina Kossak (mit dem untenstehenden Link kann man sich auch die dazugehörigen, sehr sehenswerten Fotos anschauen):
Dinge aus guter alter Zeit – die Drogerie Grabner in der Pfaffenstrasse
Martin Redetzki, 73, ist seit fast 50 Jahren Inhaber der Drogerie Grabner in der Pfaffenstraße, die es bereits seit 1872 gibt. Früher Sitz der Lübecker „Pfaffen“, wie die Geistlichen einst genannt wurden und die durch unterirdische Gänge die nahegelegene Katharinenkirche ungesehen erreichen konnten, gehört die Pfaffenstraße heute zum Teil der Fußgängerzone der Lübecker Innenstadt.
Auf den ersten Blick etwas unscheinbar fällt die Drogerie Grabner mit ihren vielen Körben vor der Tür, in denen sich von Bürsten bis zu Gummischlappen ein erster Eindruck des großen Sortiments einstellt, nicht sehr auf. Doch das ändert sich schlagartig, wenn man den Laden betritt: Zimt-Fuß-Einlegesohlen, Dauerzahnstocher und Zehenspreizer, daneben ein Regal mit Abtönfarbe, Bienenwachs und Dochten zum Selbstherstellen von Kerzen. Etwas weiter hinten entdecke ich neben einem breiten Sortiment an Haarpflegeprodukten, Batterien und Wäscheklammern Mittel zum Einfärben von Textilien. Auch verschiedene Duftwässerchen – für die Dame, wie den Herrn – und ein breites Sortiment an Kämmen und Bürsten fehlen nicht.
Willkommen im „Staatsgebiet Martin“, wie da so schön auf einem Schild über dem Ladentresen zu lesen ist, und „ohne mich läuft hier nichts!“ Der rüstige, freundliche Mann, der eine etwas altmodisch wirkende Brille trägt, begrüßt mich mit einem Lächeln, um sich dann einer älteren Dame zuzuwenden, die soeben hereingekommen ist. „Ich hab was ganz Schlimmes auf dem Herzen – ham Sie nicht noch irgendwo ´ne 60er Birne?“ fragt die aufgebrachte Kundin, die sich über die veraltete Technik in ihrer Wohnung ärgert. Martin Redetzki kann sie beruhigen und weist darauf hin, dass es die Birne, die er aus einem der unzähligen Kartons hervorholt und deren Umverpackung an längst vergangene Tage erinnert, jedoch nur noch in klar gebe. „Das ist schnurz! Hauptsache, der Vermieter gibt Ruhe!“ freut sich die Dame, bezahlt und verlässt glücklich das Geschäft.
Martin Redetzki ist Herr und Seele des 48 Quadratmeter großen Ladens, in dem er selbst von 1955 bis 1958 als Lehrling ausgebildet wurde. 1938 in Königsberg geboren, floh er 1944 als Sechsjähriger mit den Großeltern und Pferd und Wagen vor dem Krieg über das Haff. Zunächst kam er nach Hamburg, zog jedoch bald nach Lübeck, wo seine Mutter mit dem einzigen Geschwisterkind, das die Strapazen und Entbehrungen der Flucht überlebt hatte, per Schiff gelandet war. Als er von der damals so kostbaren wie seltenen Möglichkeit einer Ausbildung zum Drogisten bei Herrn Grabner erfuhr, zögerte er keinen Moment. Seitdem sind 56 Jahre vergangen – und mit den Jahren hat sich der Betrieb des ehemals nur halb so großen Ladens stark verändert. „Früher gab es diese Riesenauswahl nicht. Da waren schlicht nur drei verschiedene Zahnpastamarken erhältlich – und die ganze Familie entschied sich für eine, die dann alle benutzten. Heute hat doch jeder seine eigene Tube im Badezimmer stehen!“ erzählt der rüstige Händler und zeigt auf ein Regal hinter ihm, in dem verschiedene Zahnpastasorten stehen.
Auch Kosmetika und freiverkäufliche Arzneimittel oder „Hausmittel“, wie diese im Volksjargon hießen, habe man sich selbst zusammengestellt. Die notwendigen Zutaten gab es bei Herrn Redetzki, der sich noch viel von diesem Wissen bewahrt hat. „Drogerie leitet sich ja schließlich von dem Wort „dröge“ ab – was „trocken“ oder sinngemäß dann „getrocknete Kräuter“ bedeutet!“ weiß der gelernte Drogist zu berichten. Ein weiterer Grund, warum auch heute noch so viele die selten gewordene, fachkundige und auf langjähriger Erfahrung beruhende Beratung von Martin Redetzki schätzen. Und zu ihm in die Pfaffenstraße kommen, auch, wenn es das gleiche Produkt in einer der großen Drogeriemärkte um die Ecke vielleicht günstiger gebe.
Wie der Herr, der gerade den Laden betreten hat und nun nach Weingeist verlangt. Ohne Umstände oder längeres Suchen händigt Herr Redetzki dem zufriedenen Kunden das gewünschte Fläschchen aus und erinnert sich, wie er früher als Lehrling von seinem Chef z.B. in benachbarte Friseurgeschäfte geschickt wurde, um Gefäße für das Selbstabfüllen diverser chemikalischer Flüssigkeiten zu besorgen. Diese mussten von den Lehrlingen gespült werden, um anschließend die gewünschten Mengen an Benzin, Petroleum oder auch Terpentin hinein zu füllen. Nun in handelsüblichen Mengen konnte Herr Grabner die Chemikalien an seine Kunden weiter verkaufen: „Heute gibt es das nicht mehr. Da kommt alles schon fix und fertig verpackt über den Großhandel, ist entsprechend teurer und oft weiß man gar nicht, was dem Produkt noch alles zugemengt wurde!“
Für einen Moment scheint er seinen Erinnerungen an seine Lehrjahre nachzuhängen. Es klingt etwas wehmütig, als Martin Redetzki schließlich weiter spricht: „Heutzutage ist dieser Beruf auf dem aussterbenden Ast.“ erzählt er und bedauert ein wenig, dass die Ausbildung zum früher angesagten „Allround-Beruf“ des Drogisten heute kaum noch angeboten und nachgefragt werde. Nur noch in Zwickau gebe es eine Schule für die jährlich 800 bis 1000 Lehrlinge, die aus dem ganzen Bundesgebiet dort ausgebildet würden. „Dabei war das früher – gerade für Frauen – ein sehr praktischer Beruf!“ erklärt er weiter und betont die Vielseitigkeit der Bereiche, mit denen er in seinem Geschäft in Berührung komme: „Als Drogist konnte man ebenso gut in Berufsfeldern wie der Photographie, dem Werken, in Fachgeschäften für Farben und Lacke, als Vertreter oder in der Pharmazie arbeiten – ganz abgesehen von dem großen Wert, den diese nützlichen Kenntnisse daheim im Haushalt haben!“
Doch auch Martin Redetzki ist mit der Zeit gegangen. So hat sich das Angebot in Schaufenstern wie Regalen im Laufe der Jahre stark verändert. Mittlerweile sind es fast 10.000 Artikel, die der geschäftige Betreiber in seinem Sortiment führt. Und neben den üblichen Drogerieartikeln findet man Oblaten, Dinosaurier-Wärmflaschen und Glückwunschkarten. Auch Kerzen, etwa für Taufen oder Geburtstage, werden von Martin Redetzki und seinen zwei Mitarbeiterinnen in dem kleinen Laden in der Pfaffenstrasse persönlich und mit viel Liebe verziert und beschriftet. Bei der jährlichen Inventur, so verrät mir eine Mitarbeiterin, werde noch immer alles von Hand gezählt. Eine Heidenarbeit, denke ich und will vom Chef persönlich wissen, ob er die gezählten Daten dann am Computer auswerten lasse. „Ach, was! Bis ich das eingegeben habe, habe ich das doch schon dreimal ausgerechnet!“ entgegnet Martin Redetzki und tippt auf den Taschenrechner, der vor ihm liegt. Auch dieser ein älteres Modell, das sich bewährt hat. „Das hat mit einer Fertigung zu tun, die man heute kaum noch bekommt. Wenn wir alles in China billig produzieren lassen, um möglichst günstig viele Sachen anbieten oder selbst konsumieren zu können, bleibt was auf der Strecke. Und das geht eben auf Kosten der Qualität!“ meint er. Und ich frage mich, wo ich zuletzt ein „Made in Germany“ gesehen hätte. Zumindest vorläufig ohne Ergebnis.
Mein Blick wandert wieder durch den Laden, bleibt hier und dort hängen, verweilt und entdeckt immer Neues, Skurriles, Altbewährtes oder auch Einfallsreiches. Einiges davon hat Martin Redetzki zum Beispiel von einer der jährlich stattfindenden Fachmessen mitgebracht. Early Bird heisst so eine und ist die internationale Lifestylemesse für Konsumgüter und Designobjekte aus den Bereichen Wohnen, Dekorieren, Kochen und Genießen, die im Januar in Hamburg stattgefunden hat. Martin Redetzki war da und zeigt mir freudig eine seiner neuesten Entdeckungen: eine Ausstechform, mit der man ein pfeildurchbohrtes Herz in sein Frühstückstoast stechen kann!
Ohne Frage erfordert sein Beruf eine gewisse Gelassenheit und eine Portion Humor, nicht allzu sehr einer Zeit nachzutrauern, die vergangen ist. Oder an Dingen zu hängen, die es so nicht mehr gibt. Und so entfährt Martin Redetzki ein leises Lachen, als er einer Kundin dabei zusieht, wie sie seit geraumer Zeit kleine Metallaufzieh-Spielzeuge auf dem Boden vor sich laufen lässt. „Ich muss die testen. Schließlich soll das ein Geschenk für meinen Neffen sein!“ erklärt die junge Frau entschuldigend und scheint dabei selbst viel Freude zu haben.
Was er an seiner Arbeit so liebe, frage ich Martin Redetzki, bevor ich gehe. Und er antwortet: „Wenn meine Kunden zufrieden sind, sie alles bekommen – in Wort und in Tat!“ Und so findet man auf den kleinen blauen Rechnungszetteln, auf denen der Kaufmann auf Wunsch handschriftlich die Einkäufe seiner Kunden quittiert, folgerichtig den Zusatz: „Die kleine Drogerie, die alles hat“. Dass er diesem hohen Anspruch gerecht wird, daran habe ich keinen Zweifel. Und doch erahne ich, dass da noch mehr ist, was die Drogerie Grabner so einzigartig macht. Denn als ich auf die kleine Uhr an der Wand gesehen habe, muss ich zu meinem Erstaunen feststellen, dass die 90 Minuten meines Besuches bei ihm wie im Fluge vergangen sind. Fast fühlt es sich an wie eine kleine Zeitreise, auf der so manches Erinnerungen wach gerufen hat. Denn vieles von dem, was man (nur) in der Drogerie Grabner noch finden kann, wirkt seltsam vertraut, lässt an Geschichten aus Kindertagen denken, an die „gute alte Zeit“...
Auch, wenn ich selbst eigentlich noch gar nicht so alt bin, um das sagen zu können, empfinde ich doch die Schönheit, die in diesem Wort liegt: Nostalgie! Das ist es, was „4711“ (das Schild über dem Eingang des Ladens und wie ich das Geschäft bisher genannt habe) oder die Drogerie Grabner wohl so ureigentümlich für mich und viele andere macht. Ein Stück Lübeck, unverwechselbar, kultig und schon immer da. Ich wünsche mir, dass das so bleibt!
Von Nina Kossak am 11.03.11.
http://www.unser-luebeck.de/content/view/2946/114/
Und hier der Artikel „Trauer um den „Big Boss“ — Drogist Martin Redetzki ist tot“ in den Lübecker Nachrichten vom 08.06.13.
http://www.ln-online.de/Lokales/Luebeck/Trauer-um-den-Big-Boss-Drogist-Martin-Redetzki-ist-tot
Frank Mühlberg 16/02/2014 21:08
So etwas gibt es ja heute nicht mehr oft !Frank