6.020 9

Insulaire


Premium (World), Ile de Ré

Opfer-Kehlchen

Am PC sitzend träumte ich vor mich hin, als ich aus den Augenwinkeln
heraus einige große gelbe und rotbraune Herbstblätter wild auf
der Terrasse tanzen sah. Eben hatte ich mich doch noch über die
totale Windstille - sehr selten hier, nahe am Atlantik - gewundert.
Wenige Augenblicke später ließ mich ein hoher verzweifelter Schrei
aufschrecken und nach draußen hasten.
Zu meinem Füßen wälzten sich zwei Rotkehlchen in einem erbitterten
Kampf, der sie auf dem Boden hin und her trieb.
Erst bei genauerem Hinsehen bemerkte ich, dass das dickere der
beiden Tierchen wie besessen auf das kleinere einhackte. Es setzte
sich auf den Unterlegenen, sein Schnäbelchen fuhr immer und immer
wieder wie ein Dolch gezielt auf das Herzchen des schwächeren
Gegners, - bis es mich bemerkte, sich mit einem wahrhaft unschuldigen
und süßen Gezwitscher in den nahen Lorbeerbaum setzte und mich mit
seinen schwarzen Äuglein musterte.
Das verletzte Vögelchen lag mit ausgebreiteten Flügeln vor mir.
Als ich es behutsam aufhob und in meiner Hand betrachtete, hob es
den kleinen schönen Kopf und schrie, ... schriiiiee zweimal so laut -
wie ein Mensch in höchster Todesqual. So etwas hatte ich nie vorher
gehört.
Dann schloss das Rotkehlchen die Augen und legte sich wie zum
Schlafen auf die Seite. - Kein Tropfen Blut.
Längere Zeit noch atmete und schlief das Vögelchen in einer
Schachtel auf einem weichen Blätterbett.
Ob es in diesen letzten Stunden wohl von Regenwürmchen, einem
Riesen-Meisenknödel und vom nächsten Flug in den Himmel träumte?

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