Zwei Schichten. Arbeit Verboten.
Berlin! Berlin! (1919)_Kurt Tucholsky
Quanquam ridentem dicere verum Quid vetat?
Über dieser Stadt ist kein Himmel. Ob überhaupt die Sonne scheint, ist fraglich; man sieht sie jedenfalls nur, wenn sie einen blendet, will man über den Damm gehen. Über das Wetter wird zwar geschimpft, aber es ist kein Wetter in Berlin.
Der Berliner hat keine Zeit. (...) Er hat immer etwas vor, er telefoniert und verabredet sich, kommt abgehetzt zu einer Verabredung und etwas zu spät - und hat sehr viel zu tun. (...)
In dieser Stadt wird nicht gearbeitet -, hier wird geschuftet. (Auch das Vergnügen ist hier eine Arbeit, zu der man sich vorher in die Hände spuckt, und von dem man etwas haben will.) Der Berliner ist nicht fleißig, er ist immer aufgezogen. Er hat leider ganz vergessen, wozu wir eigentlich auf der Welt sind. (...)
Er tut alles, was die Stadt von ihm verlangt nur leben ... das leider nicht.
Der Berliner schnurrt seinen Tag herunter, und wenns fertig ist, dann ists Mühe und Arbeit gewesen. Weiter nichts. Man kann siebzig Jahre in dieser Stadt leben, ohne den geringsten Vorteil für seine unsterbliche Seele. (...)
In der Sommerfrische sieht der Berliner jedes Jahr, daß man auch auf der Erde leben kann. Er versuchte vier Wochen, es gelingt ihm nicht - denn er hat es nicht gelernt und weiß nicht, was das ist: leben - und wenn er dann wieder glücklich auf dem Anhalter Bahnhof landet, blinzelt er seiner Straßenbahnlinie zu und freut sich, daß er wieder in Berlin ist. Das Leben hat er vergessen.
Die Tage klappern, der Trott des täglichen Getues rollt sich ab und wenn wir nun hundert Jahre dabei würden, wir in Berlin, was dann -? Hätten wir irgend etwas geschafft? gewirkt? Etwas für unser Leben, für unser eigentliches, inneres, wahres Leben, gehabt? Waren wir gewachsen, hätten wir uns aufgeschlossen, geblüht, hätten wir gelebt -?
Berlin! Berlin!
Commenti 0
Cancella commento
Eliminare commento e risposte