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Charlotte P. (91): Die Vertriebene

Charlotte P. (91): Die Vertriebene

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Lebensgeschichten


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Charlotte P. (91): Die Vertriebene

„Roggenfelder, so weit das Auge blickte. So etwas habe ich nie wieder gesehen“. Ihre schöne Heimat, das Memelland, heute ein Teil von Litauen, gehört damals zu Ostpreußen, der „Kornkammer des Deutschen Reiches“ und dessen nördöstlichster Zipfel. Industrie gibt es kaum. Geboren wird sie 1917 in Heydekrug, das heute Ðilutë heißt, damals mit 5000 Einwohnern zweitgrößte Stadt im Memelland. Westlich davon mündet die Memel in das kurische Haff. Ihre Eltern betreiben dort Landwirtschaft, Charlotte P. ist eines von fünf Geschwistern. Sie habe eine glückliche Kindheit und Jugend gehabt. Doch die Heimat ist unstet: Zum Zeitpunkt der Geburt von Charlotte P. gehört das Memelland noch zum Deutschen Reich, doch der Versailler Vertrag nach Ende des 1. Weltkrieges trennt es vom Reich ab, stellt es unter das Mandat des Völkerbundes und unter französische Verwaltung. Als Charlotte P. in die Schule geht, 1923, wird ihre Heimat von Litauen besetzt und dem jungen litauischen Staat einverleibt. Als junge Frau von 22 Jahren, erlebt sie die erneute Eingliederung ins Deutsche Reich durch die Nazis, am Vorabend des 2. Weltkriegs.

Die Vertreibung aus dem Paradies beginnt im Januar 1945, als die Front über Ostpreußen hinwegrollt. Charlotte P. ist 28 und bei der Post angestellt. Mit Pferdewagen und 2 Pferden, 3 Geschwistern, der Nichte und deren Vater, versucht man der Roten Armee zu entkommen und wird auf dem Fluchtweg auf das Eis des zugefrorenen Haffs getrieben. Hier ereignen sich all die Dinge, die wir Nachgeborenen in ähnlicher Form schon mal gehört haben, über die es diverse Filme und Dokumentationen gibt und die uns heute dennoch so unglaublich erscheinen. Für die auch Charlotte P. kaum die richtigen Worte finden kann, und die ihr noch nach 60 Jahren die Tränen in die Augen treiben, wenn sie davon erzählt: Tiefflieger, die die Flüchtlingstreks auf dem Eis beschiessen, eingebrochene Fuhrwerke und aus dem Eis ragende Köpfe toter Pferde, Leichen auf dem Eis und auf den Wagen.
Die Pferde sind der wertvollste Besitz in jenen Tagen auf der Flucht, und die Pflege der Tiere ist die beste Lebensversicherung. Einmal muß sie erleben, wie einer Mutter während einer kurzen Unachtsamkeit der gesamte Wagen gestohlen wird, mitsamt ihrer vier Kinder. „Ich vergesse heute manchmal, was es am Vortag zum Mittagessen gegeben hat. Aber den Gesichtsausdruck dieser Mutter werde ich nie vergessen“ sagt Charlotte P. mit tränennassen Augen.

Irgendwie glückt die Flucht nach Schwerin und weiter nach Flensburg, und in den Nachkriegsjahren findet sie über diverse Stationen ins Rheinland zu ihrer Nichte Christel zurück, die zum Zeitpunkt der Vertreibung gerade 3 Jahre alt war und sich heute an kaum noch etwas erinnern kann. Bis zu ihrer Berentung arbeitet Charlotte P. bei der Post. Eine eigene Familie hat sie nie gehabt, aber die Betreuung und Zuwendung, die sie als heute 91jährige von ihrer Nichte bekommt, ist die einer leiblichen Tochter. Das gemeinsame Schicksal hat die beiden Frauen, die sich heute ein Haus teilen, zusammengeschweißt. Ein Foto der Luisenbrücke von Tilsit steht auf dem Beistelltisch im Wohnzimmer. Aber im Memelland sind beide nie wieder gewesen. Was es gestern zum Mittagessen gab, fällt ihr gleich wieder ein, aber beim Aufsagen eines in der Schule gelernten Heimatgedichtes ist sie sehr textsicher:

Blaues Haff und bunte Wiesen
Krähnewald und Weidenstrauch
Seid gegrüßt und seid gepriesen
Heimatstadt, Du sei es auch!
Wo ein Krug auf brauner Heide
Einst den lieben Namen trug
stehst Du nun im neuen Kleide:
Wachs und blühe, Heydekrug!

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