Der Berg ruft...
Oh, ihr glücklichen Menschen, die ihr ihn kennt, den Ruf des Berges. Seid gepriesen in eurer Glückseeligkeit. -
Was ist dran an einem Berg? Er ist doch nur überflüssig. Dem Umstand, dass Berge existieren, ist doch nur anzulasten, dass der Schienenweg dauernd gekrümmt und in der Neigung wechselnd verläuft. Nein, nein bleibt uns mit Bergen vom Leib.
Berge sind wahrlich nicht die große Liebe der Eisenbahner, schon eher die Tunnel, die den Berg durchschneiden. Oder die Brücken, die das landschaftliche Vakuum zwischen den Bergen füllen. Einzig diesem Umstand, dass das Tal der Wupper von einem solchen Wunderwerk des Stahlbaus überwunden wird, ist es zu danken, dass an einem zunächst total verregnetem später aber wunderschönen Herbstwochenende acht Zugpaare sich den Berg von Solingen-Ohligs (jetzt Solingen Hbf) nach Remscheid hoch quälen.
"Woll‘n mal sehen, wie es mit Schiebelok klappt. Vor Jahren ist ein Zug auf der Strecke liegen geblieben. Und heute? Erst die Probleme bei der Bremsprobe, dann kein Wasser für die Schiebelok, jetzt noch die verspätete Ausfahrt und schließlich auch noch der gleiche Heizer wie damals, als der Zug liegen blieb." Oh, oh - böse Vorahnungen beschleichen mich. Kaum ist der Gedanke vollendet, da schleudert die P8 zum ersten Mal. Nun gut im Weichenbereich darf nicht gesandet werden. Hinter der letzten Weiche aber, da geht’s dann zur Sache. Kaun sind drei bar im Schieberkasten da schleudert die Lok , was das Zeug hält. Regler zu, und nach dem die Räder wieder gepackt haben, erst den Sandstreuer und dann den Regler auf. Drei bar, vier bar, fünf bar, es scheint zu gelingen. Ich ziehe die Steuerung bei und öffnet den Regler weiter. Pustekuchen. Wieder schleudert die Lok. Sandstreuer zu, Regler zu und Steuerung vor. Erneut nach dem Greifen der Räder das bekannte Spiel zwischen Sandstreuer, Regler und Steuerung. Irgendwo zwischen drei und fünf bar Schieberkastendruck liegt die magische Marke, bei der das Schleudern beginnt. Mit Müh und Not gelangen wir nach Solingen-Schaberg. Der Rat unseres Lotsen leuchtet ein, sofort Schwung nehmen und rein in die Steigung nach Güldenwerth. Die Müngstener Brücke ist das einzige ebene Streckenstück zwischen Solingen und Remscheid. Hier liegen auch keine Blätter, außerdem trocknet der Wind etwas die Schienen. Trotzdem kommt der Zug nur auf lächerliche 40 km/h. Die Schiebelok ist auch nicht das Gelbe vom Ei. Bis zum Einfahrvorsignal von Güldenwerth kann die Geschwindigkeit gehalten werden. Dann aber schleudert die P8 erneut. Die Geschwindigkeit sinkt - 35, 30, 25 und schließlich 20 km/h. Nur nicht stehen bleiben. Mir wird es mulmig. Ein sanfter Ruck von hinten weckt mich aus meinen Gedanken. Die Schiebelok verhindert, dass der Zug stehen bleibt. Wir schleichen in den Bahnhof Güldenwerth. "Nach der alten Fahrplananordnung war hier ein Halt vorgesehen. Und nach der neuen? Vorsichtshalber bremsen. Nein, doch kein Aufenthalt." Langsam beschleunigt der Zug wieder. Nur noch vier Kilometer. Allmählich fällt die Anspannung bei uns.
Zwar ist die Lok in einigen Abschnitten geschleudert, aber Remscheid wurde erreicht, und das bedeutet: Der Berg wurde bezwungen. Ein Lindwurm von 200 Metern Länge und 380 t Gewicht ist oben angekommen. Das heißt, nicht ganz 380 t. Es fehlen 150 kg. Diese Menge an Sand wurde verbraucht. Sechs Säcke zu je 25 kg werden in Remscheid in den Sandkasten gefüllt. Hier liegt nämlich keine Oberleitung. Dabei müssen wir uns beeilen, denn die Rückfahrt soll sofort erfolgen. Zugbegleiter helfen den Sand herbeizutragen. Und kaum ist der eingefüllt, geht es auch schon zurück nach Ohligs. Pünktlich erreicht der Zug den Ausgangsbahnhof, und alles ist für die erneute Bergfahrt vorbereitet. Die Schläuche liegen parat, die Feuerwehr ist anwesend. Im Nu sind beide Loks befüllt, und es kann weitergehen. Wenn schon die Vorbereitungen keine Probleme machen, so ist der Rest auch kein Problem.
In der Tat. Die weiteren sieben Fahrten konnten alle Lokpersonale begeistern. Es war eine gute Stimmung bei allen Beteiligten. Das Wetter änderte sich zu Gunsten von Sonnenschein. Die Getränke- und Essensbevorratung war hervorragend gelöst, die Übernachtung bestens organisiert. Nur der Nachtheizer von Samstag auf Sonntag war sauer, wegen der Zeitumstellung hatte er eine Stunde länger Dienst. Aber am Ende der Schicht konnte auch er seinen Kummer ertränken. Also, worauf noch warten, wenn es wieder heißt: ”Der Berg ruft!”
Beatrix R. Kogler 09/06/2016 12:24
Sagenhaft, einfach sagenhaft! Bild und Geschichte! Du hast ein natürliches Talent Geschichten zu erzählen und das auch noch spannend!! Doch Buch auch, neben Fotobuch ;-)))))?Selbst der Titel lässt schon die Neugierde steigen.....
Eine Spitzensache, lieber Heinz!
glgRuth
Gert Schüler 26/07/2013 23:45
also ich schließe mich den Meinungen der anderen Betrachter voll und ganz an.focusfinder 08/08/2012 21:45
tolles bild, starke geschichte dazu. man spürt das ganze. solche strecken sind für das personal sicher sehr anspruchsvoll..
vg markus
blind lense 03/08/2012 0:03
@Andy & @Bernd. Es freut mich, daß ihr, die ihr ja vom Fach seid, mit mir fühlen könnt. Manchmal läuft's nicht wie geschmiert. Aber der Fahrgast im Zug bekommt davon meist nichts mit. Wenn der Zug dann sein Ziel erreicht hat, ist man oft fix und fertig, aber auch stolz, daß man es geschafft hat.BR 45 02/08/2012 16:38
Hallo HeinzDa hast Du Dir ja richtig Arbeit gemacht :-)9
Nicht nur auf der "rechten Seite", nein auch beim aufschreiben der Geschichte.
Man fühlt so richtig mit Dir.
Grüsse Andy
blind lense 02/08/2012 11:00
@Ralf. Danke für das Kompliment.Ralf Fickenscher 01/08/2012 16:54
Perfekt hast du Mensch und Maschine vereint,hervorragend umgesetzt !!!Vg.Ralf
blind lense 31/07/2012 23:33
In der zeitlichen Reihenfolge eurer Anmerkungen:@Dieter. Danke für dein Lob. Es war früher für die Eisenbahner ein ungeschriebenes Gesetz, Ankommen ist ein Muß egal wie.
@BP. Ganz herzlichen Dank für die Blumen.
@Micha. Auch wenn die Planer heute die Zuglängen und -gewichte im Griff haben, es ist mehr als fraglich, ob man so etwas je wiederholen kann. Trotz Renovierung der Brücke mit 30 Mio Euro ist nicht abzusehen, ob Dampfzüge wieder über dieses schöne Bauwerk fahren werden.
@Andreas Danke für dein Lob. Die Jacke hatte schon ein Loch an dieser Stelle, weiß der Geier woher das kam. Beim Rumhampeln für die Bremsprobe, das ist eine Geschichte für sich, habe ich mir an dem Haken des Segeltuchvorhanges das Loch noch größer aufgerissen.
@Joachim. Die Fahrt vom Ronsdorfer Tunnel aus ist eine Klasse für sich. Da braucht man gestandene Lokpersonale, die ihr Handwerk verstehen. Die Feuchtigkeit im Tunnel sorgt immer für glitschige Schienen. Selbst im heißesten Sommer. Wie Anspruchsvoll diese Strecke an sonsten ist, beweist dieses Video
http://youtu.be/NlXSsUKWqA8
Ab etwa 3:30 kann man deutlich den Übergang von der Steigung in eine kurze Ebene sehen. Aber dir brauche ich das ja nicht erzählen, du kennst ja die Strecke aus dem ff.
Joachim Engelbracht 31/07/2012 20:54
Die Bergische Runde im Uhrzeigersinn ist auch nicht ohne. Vor allem die Steigung vor Wpt. Ronsdorf.Im Rauentahler Tunnel war schon mal verrecken angesagt wenn die Achszahlen über normal lagen.
Mein Gott haben die geflucht und gehustet. Wenn die im Tunnel geschleudert sind.
Liebe Grüße: Achim
Andreas Pe 31/07/2012 17:08
Sehr schön, wie Du hier die Arbeit des Lokführers beschreibst, der nicht nur den Fahrhebel vor oder zurückziehen konnte. Das Bild mit seiner Tonung passt gut. Aber vielleicht gibt es gelegentlich eine neue Jacke für den Meister.VG Andreas
Michael PK 31/07/2012 12:43
Es ist ja meine Heimatstrecke und der Dampflok wird und wurde hier immer alles abverlangt.Das liegenbleiben mit der 64 er habe ich hier erlebt....auf dieser Strecke war und ist alles möglich....Sooft ich kann bin ich immer vor OrtDieter Jüngling 31/07/2012 11:47
Eine feine und (ich denke auch für den Laien) nachvollziehbare Geschichte. Du hast sie mit einer schönen Aufnahme unterlegt.Mehrmals konnte ich ähnliche Fahrten hinauf zum Rennsteig auf der 94er erleben. Wenn in den Ferienorten "Anreise" war, waren unsere Züge immer an der Leistungsgrenze gefahren worden. Aber geschafft haben wir es auch immer. Manchmal nur noch Schrittgewindigkeit zwischen Stützerbach und Rennsteig. (1970)
Gruß D. J.