Elternhaus 6. September 2020 - 2
Das Elternhaus
Wir sind wohl das, was man eine Familie mit weitrechendem Stammbaum nennt. In sämtlichen Branchen und auch einigen Ländern haben wir unsere Spuren hinterlassen. Mediziner, Finanzexperten, Juristen, Kunstaffine, Fotografen. Unserem Ursprung wohnen eher zupackende Berufe inne, wie Bauern, Elektriker, Chauffeure, Köche. Mein Vater war der Inbegriff eines grafischen Künstlers, der mittels Brottätigkeit die Familie ernähren musste und dabei dem Schicksal folgend ohne Akademiker zu sein, eine beachtliche Karriere in wirtschaftlichen Nebenzweigen der Gesundheitsindustrie machte. Davor war er Modeberater und Schaufensterartist. Meine Mutter war in Arztpraxen tätig und dann aber später ausschließlich für eine klassische Erziehung der Kinder verantwortlich, welche in den 1950er bis 1980er Jahren aufwuchsen.
Nach dem Tod meiner Eltern, änderte ich nicht meine Frisur, was auch niemand erwartet hätte, ich kaufte mir jedoch vom eigenen Geld hochmoderne neue Kameras, um die Zeit danach so zu dokumentieren, wie ich das schon vorher getan hatte – im Anschluss an die grafische Meisterschaft meines Vaters, welche in der Familie niemand je vor ihm, noch nach ihm erreichte. Übrig war u.a. ein leerstehendes Haus voll mit physischen Bilddateien. Mein Vater hatte das Computerzeitalter zwar stets bewundert, aber nie benutzt. Physische Dateien, also gerahmte Bilder z.B. haben die Eigenschaft Raum und Zeit einzunehmen und nicht ausschließlich auf einer digitalen Festplatte mit den Jahren zu zeitigen.
So stand da ein Haus aus Kunst, Leben und meinen Jugenderinnerungen rum und wurde mit der Zeit nicht besser. Es waren immer noch die gleichen Dinge in ihm, als würde immer noch das alte Ehepaar dort wohnen, welches – so munkelte die Nachbarschaft – wohl schon immer hier lebte. Beide – so glaubten die Leute – müssten doch bald ein ganzes Jahrhundert füllen. Nun ja, in diesem Haus lebte das Paar knapp 50 Jahre und hatte aufgrund beider Geburtsdaten in den 1920er Jahren eine unruhigere und gefährlichere Vergangenheit, als Gegenwart. Sie gehörten zu den Menschen, die den Krieg überlebt hatten als wenige der Leute ihrer unmittelbaren Umgebung und wurden folglich ein nicht ganz untypischer Bestandteil der Bundesrepublik Deutschland. Auch waren beide nicht aus der Nähe von Hamburg, wo jetzt immer noch dieses Haus steht. Sie lernten sich in Dessau kennen, heirateten im Westen und kamen bei Verwandtschaft in der Nähe von Kiel unter, bevor es meinen Vater beruflich nach Hamburg verschlug. Aus dieser ganzen Geschichte entstanden drei Kinder. Der jüngste Sohn – ich selbst also – wurde 1964 geboren und zog mit meinen Eltern 1969 in dieses besagte Haus.
Nach dem Tod beider Eltern stand ich wie andere Verwandte erst einmal recht ratlos in einem Haus, in dem sich Geschichte gesammelt hatte, aber aus dem seit einiger Zeit keine Geschichte mehr ausging. Die Menschen, die dieses Haus besessen hatten, wurden so alt, dass sie nur noch beobachten konnten, wie jetzt die Nachkommen agieren. Ein paar Bilder, ein paar Gegenstände, vor allem ein paar Kameras und Objektive wollte ich noch nutzen. Es ging für jeden von uns um seinen Ausschnitt im Sinne des Erinnerns.
Wie das dann so ist: irgendwann wird eine Firma beauftragt, diesen ganzen großen Rest des Hauses leer zu machen und einen alten großen Haushalt mit viel zu viel Sachen aufzulösen. Das ist nun passiert. Das Elternhaus ist leer.
Gestern begab ich mich nun zum Haus und versuchte diese nun vollkommen leere Wohnung zu begreifen und wiederzuerkennen. Ein hohler Kasten in dem noch irgendwas war, was man aber wirklich nicht beschreiben konnte. Jeder Schritt hallte. Ein Stück abgerissene Tapete unter einer selbst schon alten Tapete. Die Zeichnung meines Vaters auf violetter Wand unter einer 1970er Jahre Holzvertäfelung. Im Keller ein tropfender Wasserhahn an der Hausleitung - darunter ein Eimer. Ich konnte das Geräusch nicht abstellen. Und dann dieses gewaltige Getöse. Ein schauriges Gewitter brach los. Zum letzten Mal bot mir das Haus Schutz. Ein Unterschlupf, der gut tat, den ich allerdings nicht lange in Anspruch nehmen wollte. Schließlich gibt es gemütlichere Orte, als ein leer geräumtes Haus ohne Sitzgelegenheiten.
Auf dem Boden dann die herausquellende Dämmwolle unterm Dach. Ein Blick auf ein ausgeräumtes Stück Heimat für ein paar Menschen in der Vergangenheit – der ausgebaute Boden. Ein Wohnzimmer für den Bruder, ein Musikzimmer für mich, Atelier für meinen Vater, Fernsehzimmer für die Familie. Ich entschloss mich nach einigen Fotos von dem allen, wieder nach unten zu gehen. Plötzlich ein gewaltiges Geräusch, niederprasselnd auf das Haus ohne Dämmmöbel oder „Schöner Wohnen“. Ein Wolkenbruch ging herab und mit aller Gewalt klatschte strömender Regen auf die schrägen Dachfenster. Das hatte ich zuletzt vor Jahrzehnten gehört. Aber jetzt war es so laut wie noch nie. Wer hatte sich da jetzt so vehement noch einmal zu Wort gemeldet?
Ich machte noch ein paar Bilder im Parterre. Noch einmal trat ich auf den Balkon und fotografierte diesen Regen, der allmählich nachließ. Dann packte ich zusammen, damit ich meinen Bus quasi vor der Haustür nicht verpasste. Ich trat aus dem Haus und schloss die Türe zu. In diesem Moment stellte der Regen seine Arbeit ein.
7. September 2020
Thomas Tilker 22/01/2021 14:49
Ein, wohl über Jahre gewohnter Ausblick aus einem Fenster und eine melancholische Geschichte dazu.Photomann Der 11/09/2020 19:16
!!!