Frühmorgendlicher Blick zum Lehrter-Stadtbahnhof - dem Tode ganz nah.
Der frühmorgendlich Blick von Ost nach West, nicht nur im geografischen Sinne, führt über den ehemaligen Todesstreifen in Ost-Berlin nach Westberlin zum ehemaligen Lehrter Stadtbahnhof, mit der daneben befindlichen Baustelle des heutigen Berliner Hauptbahnhof. Dieser historische S-Bahnhof wurde erst zur 750 Jahr-Feier Berlins für umgerechnet rund 11 Millionen Euro denkmalgerecht restauriert, im Sommer 2002 dann allerdings im Zuge der Bauarbeiten für den neuen Berliner Hauptbahnhof abgerissen.
Ich befinde mich im Gebäude der Pathologie der Charité, wo die Gerichtsmedizin sowie ein Hörsaal zur Leichenschau sich befindet. Ziel war deren Dachboden und ein Dachklappfenster aus dem ich das beigefügte Foto gemacht habe.
Zur meiner großen Überraschung war die Haustür zum Gebäude der Gerichtsmedizin offen und ich kam bis in den Dachboden, wo ich jenes Klappfenster in der Dachschräge entdeckte welches mir den gewünschten Blick Richtung Lehrter Stadtbahnhof frei gab.
Mit seiner Lage, im scharf kontrollierten unmittelbaren Grenzgebiet, war das Gebäude nicht nur Hörsaal für Medizinstudenten bei der Leichenschau, sondern auch letzte Station für zu obduzierende Personen und getötete DDR-Grenzflüchtlinge.
Grenztruppen überführten verletzte oder getötete Flüchtlinge aus
dem Todesstreifen nicht automatisch in das nächstgelegene Hospital, sondern hatten sie in
festgelegte Krankenhäuser – bevorzugt in das Volkspolizei-Krankenhaus in Berlin-Mitte und in
das Armeelazarett Drewitz bei Potsdam – bzw. zur Obduktion in das Gerichtsmedizinische
Institut der Humboldt-Universität (Charité) oder das Zentrale Armeelazarett Bad Saarow
einzuliefern. Der Transport erfolgte in der Regel auch bei Schwerstverletzten nicht in
Krankenwagen, sondern auf der Ladefläche von Armeelastwagen oder „Kübel-Trabis“ ohne
jede ärztliche Versorgung. Eine schnellere Hilfe und menschenwürdigere Handlungsweise hätte
späteren Gutachten zufolge einige Leben retten können (z.B. im Fall von Klaus Garten, Hans-
Jürgen Starrost, Silvio Proksch, Michael Schmidt).
Nach der Ankunft bei der Gerichtsmedizin übernahm die Stasi – zuständig
waren die Untersuchungsabteilungen („Linie IX“) der beiden MfS-Bezirksverwaltungen in Berlin
und Potsdam und in besonders wichtigen Fällen die Hauptabteilung IX der MfS-Zentrale – die
Regie. Es wurde unter anderem untersucht ob das gemäß der Obduktion, das Schußbild der Wunden zu den von den Grenzposten geschilderten Fluchtversuch und abgegebenen Schüssen passten, welcher Posten aus welcher Waffe wieviel Schüsse abgab und wie viele davon den "Grenzverletzer" wo im Körper trafen.
Mitarbeiter der gerichtsmedizinischen Institute, insbesondere die Pathologie der Charité, der Krankenhäuser, der Staatsanwaltschaft, der
Volkspolizei, der Standesämter, der Bestattungsinstitute, des Krematoriums Baumschulenweg
und der Friedhofsverwaltungen kooperierten mit der Staatssicherheit oder dienten ihr als
Instrumente und beteiligten sich auf deren Wunsch oder Anweisung an der Manipulation von
Beweismitteln und an der Fälschung amtlicher Dokumente wie Totenscheine und
Sterbeurkunden.
Nach 1990 bildeten alle beteiligte Ärzte, besonders jene die eine Obduktion durchzuführen hatten, Staatsanwälte, Volkspolizisten, Mitarbeiter des
Standesamts, des Krematoriums und der Friedhofsverwaltungen darüber gemeinsam mit den
Stasi-Verantwortlichen eine Art Schweigekartell. Das spurlose Verschwinden der Leichname
von zahlreichen Toten ließ sich deshalb nicht aufklären.
Eine Ausnahme war der Professor Dr. Otto Prokop, unter anderem, auch die Obduktion der ersten Mauertoten ihm aufgetragen war. Sein Bestreben war es – gegen den Willen des sozialistischen Systems – die wahre Sachlage der Todesumstände der an der Grenze erschossenen Flüchtigen der Nachwelt zu überliefern, was die Stasi nicht daran hinderte sämtliche Todesscheine nachträglich zu fälschen. Nach der Obduktion zog die Stasi die Berichte unmittelbar ein. Die Verschleierung der wahren Todesumstände wurde im Nachgang vorgenommen. Weshalb bei vielen Obduktionen Ärzte des Volkspolizeikrankenhauses auf Anordnung der Stasi anstelle von Charité-Ärzten in der Pathologie tätig waren. Wegen seiner Expertise und der Schulung von Ärzten des MfS, war Professor Prokop trotz oder vielleicht wegen seiner Ehrlichkeit sowie Kooperation bei der Staatssicherheit hoch angesehen und wurde zu seinem 60. Geburtstag mit einem Meissner Porzellanservice geehrt und belobigt.
Wäre die Geschichte der Pathologie der Charité nicht gruselig genug, so bot sich beim betreten deren Dachboden ein Vermutung, die mir beim fotografieren ständig Gänsehaut bereitet hatte:
Auf dem Dachbalken vor dem Fenstersims der Dachluke lag ein verstaubter Sandsack, am Boden dutzende DDR-Zigarettenkippen und kurz dahinter an einem Querbalken ein Waffenhalter, sowie ein Stuhl daneben.
Von dem Dachfenster hatte man die Trasse der Stadtbahn und den Humbolthafen bestens im Blick, ohne Gefahr zu laufen entdeckt zu werden, aus den vorgefundenen Umständen ließ sich vermuten, das auf dem Sandsack ein Soldat der Grenztruppen sein Gewehr positionierte. Vielleicht nicht regelmäßig, aber unter besonderen Umständen diente der Dachboden quasi als verdeckter Wachturm. Unweit des Lehrter Stadtbahnhofes befand sich früher am Humboldthafen ein besonderer Wachturm auf einem Stahlrohrpfosten. Doch so nah in Wurfreichweite zu Westberlin, war dieser häufig Ziel von Steinen und anderen Gegenständen, also wurde dieser demontiert. Trotzdem blieb das Grenzgebiet selbstverständlich scharf überwacht. Gemäß der vorgefundenen Umstände liegt der Verdacht nahe, das jenes Klappfenster im Dach der Pathologie als verdeckter Beobachtungsposten der Grenztruppen diente. Zumindest nach Beobachtungen aus Westberlin wurde genau hier an der Stadtbahntrasse kein Flüchtling erschossen, wohl aber Günter Litfin, der unweit der Pathologie nachdem ihn Grenzposten entdeckten, ins Wasser der Humboldthafen sprang und kurz vor erreichen des Westberliner Ufers, von einer Gewehrkugel im Hinterkopf getroffen wurde und ertrunken ist.
Als ich den Dachboden der Pathologie verließ sah ich durch die Fenster des Treppenhauses einen weißgrünen VW-Bus der Polizei vorfahren - hatte man mich doch entdeckt? Statt dessen folgte dem Streifenwagen einen Leichenwagen und ich sah wie die Mitarbeiter des Beerdigungsinstitutes einen Sarg in die Pathologie trugen, die Polizisten folgten dem Sarg. Dieses letzte Geleit durch Polizisten hat ein Toter nur, wenn die Umstände eindeutig auf eine nicht natürliche Todesursache schließen lassen, bzw. wenn ein Tötungsdelikt vermutet wird, Diese Chance nutzte ich , um die Stätte des Todes zu verlassen, noch immer mit Gänsehaut, reichlich Adrenalin im Blut und einem mulmigen Gefühl im Bauch habe ich mir geschworen trotz der herausragenden Perspektive, später mit Blick zum Hauptbahnhof, nicht wieder zu kommen. Der Gedanke, man hätte dort den legendären Gurkenzug fotografieren können, wäre zwar im Nachhinein sehr reizvoll gewesen, aber ob man Anfang der 1990er Jahre jederzeit problemlos frühmorgens in das Gebäude der Pathologie gelangen könnte, bleibt unbeantwortet, hätte, hätte, Fahrradkette….
Quelle der Informationen zu den Mauertoten sind Publikationen der „Gedenkstätte Berliner Mauer“, Zeitungsartikel, Lesungen der BStU sowie eigene Recherchen.
makna Un'ora fa
G E S C H I C H T S T R Ä C H T I G I N W O R T U N D B I L D : R E S P E K T !!!BG makna
Leo Borning 2 ore fa
Gruselig Deine Schilderung dieses Umgangs mit den erschossenen "Grenzverletzern" -gruselig Dein Fund von Sandsack und Waffenhalter am "verdeckten Wache-Fenster" !!!
Danke freilich für genau diese genaue Schilderung !
Großartig dann freilich Dein Bahnmotiv mit der Station Lehrter Stadtbahnhof,
der herankommenden 103 auf der Stadtbahn, und der Hbf-Baustelle !!!
Ein ganz besonders geschichtsträchtiges Dokument !
So long Leo
Thomas Reitzel 5 ore fa
Chapeau - was für eine gänsehauterzeugende Dokumentation, die die Unmenschlichkeit dieses Unrechtsstaates einmal mehr ins rechte Licht rückt.Nebenbei ein einmaliges Bild, das durch die 103 vor ihrem Doppelstock-Nachtzug noch besondere Bedeutung und die zeitliche Einordnung erhält!
BG, Tom