Gipfeltreffen: Koexistenz garantiert
Man kann beim Anblick des Fotos durchaus der Versuchung erliegen - und nicht erst angesichts der aktuellen politischen Lage -, das Nebeneinander der beiden Spinnen in menschliche Verhaltensmuster zu übertragen, um aber spätestens beim zweiten Gedanken feststellen zu müssen, dass das ja wohl nicht korrekt sein kann. Zugegeben, der Gedanke hat etwas für sich, selbst wenn er nur als personifizierende Metapher angesehen werden würde. Oder gerade weil?
Was aber ist die wirkliche Natur der Dinge?
In einem unbewirtschafteten Kiefernforst am Rande des NSG Marienfließ sterben nach und nach die Bäume ab, die Rinde löst sich, Bäume fallen um. Unter der Rinde finden sich höchst spannende Lebewesen und Vorgänge, die man sonst nicht zu Gesicht bekommt. Den Winter verbringen die Spaltenkreuzspinne (Nuctenea umbratica) und die Rindenspringspinne (Marpissa muscosa, auch Rindenstreckspringer) gemeinsam dort, dazu gesellen sich einige Sack-, Plattbauch-, Lauf- und Baldachinspinnen. Während die Kreuzspinne keine Gespinste für die Überwinterung anlegt, sondern mit angezogenen Beinen regungslos unter der Rinde verharrt, webt sich die Springspinne ein kleines, sehr dichtes und festes Gewebe, in das sie etwa zweimal hineinpassen würde.
Unter einer dieser Rindenplatten fand ich beide Spinnen; die Springspinne hatte sich gerade aus ihrem Gespinst geschält und bewegte sich noch etwas träge mal hier hin, mal dort hin – und traf dann wohl zufällig auf die Spaltenkreuzspinne. Während sich diese überhaupt nicht bewegte, wurde sie umlaufen, an einem Bein berührt, ihr Hinterleib (Opisthosoma) betastet, noch einmal umlaufen … Und dann hatte ich die Kamera endlich einsatzbereit.
Obwohl sich Spinnen sich bekanntermaßen auch gegenseitig attackieren können, passierte hier nichts dergleichen. Abgesehen von den noch relativ niedrigen Temperaturen, die Bewegungen und erst recht Angriff und Verteidigung wegen des enorm hohen Energieverbrauchs im Winter erschweren, spielt hier etwas anderes die Hauptrolle.
Die Spaltenkreuzspinne baut Radnetze und hat sich im Laufe ihrer Evolution darauf beschränkt, Nahrung aus selbstgebauten Netzen zu fischen. Alles, was nicht in einem Netz zappelt, ist als Beute nicht erkennbar und wird darum auch nicht angegriffen. Für die mit einem hervorragenden Sehsinn ausgestattete Springspinne ist die voluminöse Kreuzspinne genauso wenig interessant. Denn erstens bewegt sie sich nicht eine Spur und wird wohl deshalb als nicht lebend erkannt, und zweitens wirkt sie selbst wie ein Stück Rinde und gerade nicht wie die typischer Weise gebauten Beutetiere, überwiegend Fliegen und Mücken, die zudem fast immer in Bewegung sind.
Kurz gesprochen: Beide können nichts miteinander anfangen und leben gegenseitig unbehelligt ihr eigenes Leben. So gesehen hat es die Natur klug eingerichtet, möglichst vielen und vielfältigen Geschöpfen Raum auf der Erde zu geben (selbst dem einen, das glaubt, klüger als die Natur zu sein).
Wombat.1963 22/03/2022 20:20
Absolut faszinierend und danke für die doppelten Sinne mehr als kluge und erhellende Erklärung. VG Ludger