Herr Immig
Wie jeden Morgen stand Herr Immig vor der Haustür.
Sein Blick schweifte ins Niemandsland, denn eigentlich gab es nicht viel zu sehen.
Überhaupt gab es nicht viel, das den netten, älteren Herrn sonderlich bewegte.
Seit seiner Pensionierung hatte er das Gefühl, als hätte man ihm den Boden unter den Füßen weggezogen.
Immer hatte er funktioniert wie ein Uhrwerk, war an jedem Werktag nach dem Verzehr eines Honigbrötchens nebst einer Tasse nicht zu starken Kaffees zum Amt gegangen und hatte dort zwischen seinen Aktenbergen einen ausgefüllten Tag verlebt. Jeder hatte ihn als gewissenhaften, kompetenten Beamten anerkannt, man war freundlich, aber auch nicht zu herzlich miteinander umgegangen, und seine ganze Fürsorge hatte den beiden Kakteen auf der Fensterbank der leicht muffig riechenden Amtsstube gegolten.
Das alles war mit einem Schlag beendet, als der Tag der Wahrheit gekommen war. Mit einer Urkunde in der Hand und den beiden Kakteen im Karton trat er den Weg in ein ungewisses Nichts an.
Mechthild, Herrn Immigs Frau, konnte nicht verstehen, dass der Gatte die neugewonnene Freiheit nicht für allerlei Dinge nutzte, die das Leben ihrer Meinung nach verschönern könnten.
Aber was sollte er tun? Briefmarken sammeln etwa?
Das hatte er als Junge mit Leidenschaft getan, aber wer schrieb schon noch Briefe?
Mit mäßigem Erfolg hatte er sich im Garten zu schaffen gemacht, doch er war es eben nur gewohnt, mit Blick auf die gepflegten Rabatten seinen Sonntagskuchen zu verzehren.
Frau Immig begann, sich um ihren Mann zu sorgen, und hatte stets allerlei Aufträge, mit denen sie ihn betraute.
Mal schickte sie ihn zum Metzgerladen, mal in die Drogerie, um Nichtigkeiten zu besorgen, aber wirklich wichtige Aufgaben gab es für Herrn Immig nicht, denn das Leben im Haus war ohne ihn organisiert.
Herr Immig fühlte sich leer, und nicht einmal darüber dachte er nach, während er die Straße hinunterblickte und am Horizont einen Vogel wahrnahm. Herr Immig lächelte …
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Ich „klebe“ das Bild nun in das Foto-Geschichten-Buch
Wer sich dazu äußern möchte, kann das gerne hier (oder auch dort unter dem Bild) tun.
Vielen Dank für das Interesse!
:-)
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Die Skulptur ist Teil der Ausstellung "Alltagsmenschen" von Christel Lechner, die es den Sommer über in verschiedenen Städten zu sehen gibt.
Günter7 27/11/2019 23:18
Ich habe damals dem Tag entgegen gefiebert.......!Herr Imming solte sich eine Kamera kaufen,
dann wäre sein Tag ausgefüllt.
marant 20/09/2019 18:57
Ich frage mich gerade, was würde Herr Immig sagen, sollte er es mal zum Lesen bekommen haben. Ich ahne schon, lächeln …. ganz schön scharfsinnig deine Umschreibung :))dodo139 19/09/2019 16:23
Herr Immig könnte doch mal mit seiner Frau tanzen gehenoder fotografieren zu seinem Hobby machen VG Doris
Alfred Schultz 18/09/2019 12:06
Hoffe, der Herr Immig hat seineZustimmung zur Veröffentlichung
seines Konterfeis gegeben.
Gruß - A.
Mira Culix 16/09/2019 12:31
Übrigens steht ein ähnliches Paar in der Stadt meiner Jugend.Klacky 16/09/2019 12:27
Herr Immig lächelte.Er lächelte, weil er etwas wußte, was die anderen nicht wußten.
Er hatte es sich bitter erkämpft, und er würde weiterkämpfen.
Still und heimlich, wie es seine Art war.
Nicht auftrumpfen, nicht auf den Tisch kloppen, es sei denn mit einem Stempel, den er auf ein Formular haute, früher. Aber das war nun vorbei.
Aber er arbeitete unablässig an seinem Plan und war schon mächtig vorangekommen.
Seine Amtsstube hatte sechs Quadratmeter gehabt, sechs Quadratmeter, die nur ihm gehörten, auf oder in denen er der König und alleinige Herrscher war, die er mit seinen Akten, Stempeln, Anträgen und Formuleren teilte. Die wollte er wiederhaben, die Quadratmeter, die große Freiheit, die für ihn Große Freiheit.
Hier und heute hatte er sich, ohne das es jemand gemerkt hätte, schon einen Viertel Quadratmeter erkämpft, 50 mal 50 Zentimeter Platte, auf denen oder der er stand. Diesen Raum würde er pö a pö erweitern, still und heimlich, wie es seine Art war, und niemand würde es merken.
Herr Immig lächelte bei dem Gedanken an die Große Freiheit ...
Ruth U. 16/09/2019 10:14
Das erinnert mich stark an den Film „Pappa ante Portas“.Mira Culix 16/09/2019 10:11
Immerhin, Herr Immig hatte zwei nette kleine Kakteen in der Amtsstube, keine Sansiverien.Vielleicht könnte Mechthild ihm eine Digiknipse schenken, und er könnte nach einiger Zeit in der fc dann ehrenamtlicher Admin werden und aufpassen, dass auch keine durch ein dünnes Kleidungsstück schimmernde Brustwarze außerhalb des Aktkanals auftaucht und dass auch niemand eine Gummiente bei Natur einstellt.
Starcad 16/09/2019 9:23
Die Geschichte passt zur Skulptur. Und sie beschreibt eine sehr realistische Situation, die manchmal in eine Depression führen kann. Ist doch irgendwie schade, wenn es ein Mensch nicht gelernt hat, ohne den üblichen Trott einer Arbeit mit seiner Zeit etwas anzufangen. Es liegt aber auch der Art von Tätigkeiten und der Organisation der Arbeitswelt, das es so etwas häufiger gibt. Ich denke aber, in dieser Hinsicht hat sich bereits ein Wandel vollzogen, der aber ebenfalls seine Tücken hat.LG Marc