Klage.
Uns ist kein Sein vergönnt. Wir sind nur Strom,
Wir fließen willig allen Formen ein:
Dem Tag, der Nacht, der Höhle und dem Dom,
Wir gehn hindurch, uns treibt der Durst nach Sein.
So füllen Form um Form wir ohne Rast.
Und keine wird zur Heimat uns, zum Glück, zur Not,
Stets sind wir unterwegs, stets sind wir Gast,
Uns ruft nicht Feld noch Pflug, uns wächst kein Brot.
Wir wissen nicht, wie Gott es mit uns meint,
Er spielt mit uns, dem Ton in seiner Hand,
Der stumm und bildsam ist, nicht lacht noch weint,
Der wohl geknetet wird, doch nie gebrannt.
Einmal zu Stein erstarren! Einmal dauern!
Danach ist unsre Sehnsucht ewig rege,
Und bleibt doch ewig nur ein banges Schauern,
Und wird doch nie zur Rast auf unsrem Wege.
Hermann Hesse
Tyria 31/07/2012 22:49
Lieber Markus,ich fühl mich schon wie Mr. J. Du nagelst mich förmlich fest. Aber das ist auch dein gutes Recht...ich hab's ja versprochen. Eigentlich sollte ich mich Richtung Bett begeben. Aber was ist schon ne halbe Stunde Schlaf gegen ein paar Worte, die einen ehrlichen Zuhörer finden. Und diese Aussage passt so ungemein schicksalhaft zu meinem Tag und diesem Abend.
Ist dir mal aufgefallen, dass die meisten Menschen gerne reden, aber niemand sich die Zeit und die Ernsthaftigkeit nimmt auch mal zuzuhören? Und zuhören zieht nach sich, dass man aufnimmt, was der Andere sagt, dass man eine so durchdachte und treffende Antwort gibt, dass der Gegenüber sich auch so fühlt, als hört man ihm zu. Menschen sind schon kuriose Wesen. Sie haben so viel mitzuteilen, dass sie nicht ma mehr darauf achten, ob sich irgendwer überhaupt dafür interessiert, was sie so alles von sich (preis-)geben.
Ein wahrlich eigentümlicher, in der Konsequenz sehr zu denken gebender Tag für mich. Ein Tag voller Menschen, die nie verstanden haben, was es heißt auch mal zuzuhören. Ja das ist Arbeit. Und es ist anstrengend. Aber die Früchte, die man für echtes zuhören ernten und echte, ehrliche, wohlübverlegte Antworten...die sind unbezahlbar.
Ich glaube ich sollte anhand deiner Bilder eine Art Tagebuch beginnen. Denn mit Fotos oder Bildern ist es ähnlich: tausende von Menschen sind auf den Trichter der Fotografie gekommen. Tausende Menschen drücken sich durch ihre Fotos aus und manch einer drückt sich mit seiner fotographischen präsenz sogar auf. Aber (Selbstbeweihräucherung aktiviert!): die wenigsten sind in der Lage die Message, die der Ausdrückende rüber bringen will, aufzunehmen. Wer beschäftigt sich schon ausgiebig mit den Milliarden von Kunstwerken in diesem Portal?...Ich philosophiere davon und drifte vom Bild weg, aber das beschäftigt mich heute einfach. Sich für andere Zeit nehmen...WER macht das heute noch?
Dieses Foto hat mich mitgerissen. Schon beim ersten Eindruck. Ich versuche mich mal zu sammeln und zu strukturieren, was genau mich so daran bewegt.
Im Grunde ist es wohl die Widersprüchlichkeit der zwei Charaktere, die wir da sehen. Eine alte(?), völlig eingefallene, abgelebte Frau. EIne Frau, die im Leben wahrscheinlich zu viel mitgemacht und zu viel gesehen hat. Demgegenüber eine junge und voll im Saft stehende Schönheit. Strotzend vor Lebensenergie und Vitalität.
Und doch muss die Eine, Entkräftete, Erfahrene aber eben gezeichnete Frau diese unschuldig Junge und Unerfahrene in ihrem Armen auffangen. Was mag wohl geschehen sein? Welche bitterböse Situation muss eingetreten sein, dass die von strahlender Schönheit Erleuchtete, eigentlich doch Standfestere sich in die Arme der Älteren fallen lässt.
Dramatik spricht aus der Szene. Und nichts passt zusammen. Oder vielleicht passt gerade dewegen alles zusammen. Irgendein Ereignis hat die junge Dame frörmlich von den Socken gerissen und aus der Bahn geworfen. Irgendetwas raubt ihr alle Kraft, vielleicht auch die Hoffnung. Und trotzdem wirkt sie in ihrer Entspannung, im Sich-Fallen-Lassen so friedvoll und erlöst. Mit sich selbst im Reinen und auch erleichtert.
Demgegenüber wirkt die Ältere, die eigentlich Lebenserfahrung ausstrahlt von der Situation völlig überfordert, überwältigt, ungläubig. Wen sieht sie da? Den Leibhaftigen Tod? Gott? Was?
Es ist etwas, das in seiner Wirkung so gigantisch ist, dass die Junge ihm nicht stand hält und umgehend kapituliert. Die ALte wirkt fassunglos, entgeistert und völlig perplex.
Diese Ganze Situation, dieses unglaublich Gravierende, das den beiden in diesem Augenblick zuzustoßen scheint, das überwältigt und scheint andererseits nicht zu passen. Warum ist die Alte trotz ihrer ganzen Weisheit darauf nicht vorbereitet? Und warum reicht die Lebensenergie dieser jungen, schönen Dame nicht aus um dem entgegenstehen zu können?
Diese Situation reißt einfach mit und vielleicht auch herunter. Obwohl ich selbst der Szenerie er neugierig ergründend gegenüberstehe als irgendwie geschockt oder erschüttert.
Mich bewegt dieser hagere, eigentlich ausdruckslose aber trotzdem erschrockende, leicht Widerstand bezeugende Gesichtausdruck der Alten. DIese tiefliegenden Augen sind phänomenal. Und in ihrer Zerbrechlichkeit schafft sie es dennoch als Einzige die Halung zu wahren.
Die harten Kontraste und die eher Farblose harte Tristess unterstreichen die Auweglosigkeit, die Dramatik und die Ausgeliefertheit der beiden Damen. Im übrigen scheint sie bis auf diese überfordernde, vielleicht mystische Situation sonst im Leben nicht verbunden zu haben. Die gehören so wenig zusammen wie Pech und Schwefel. Sie sind sich in einem völlig unabsehbaren Moment über den Weg gelaufen und durch schicksalhafte Fügung ungefragt hier näher gekommen. Und trotzdem stellt sich die Alte uneigennützig hinter die Junge und bietet ihr Schutz, Halt und Hilfe. Ob diese Hilfe noch rechtzeitig kommt ist allerdings fraglich.
Ich finde die Situation gerade desegen faszinierend, wiel die beiden sonst keinerlei Berührungspunkte zu haben scheinen. Sie kennen sich meines Erachtens gar nicht. Und obwohl die eine schwach scheint bietet sie fast mütterlichen und altruistischen Schutz während die andere, sonst sicher sehr auf ihre ußere Wirkung bedacht, jede Haltung und Kontrolle aufgibt und sich einer Fremden preis gibt.
Das passt auf den ersten blick nicht. Warum sollten sich zwei so unterschiedliche Damen begegnen. Warum, wann und wo?
Und auch wenn es auf diese Fragen keine Antworten geben wird, weil das Bild die Antwort so gezielt ausspart, obwohl der Sonnenschein so verführerisch aus der Richtung der Antwortgebenden Person(?) kommt und der Blick so unverkennbar gezielt, scharf und ehrfürchtig in genau diese Richtung geht...genau dehalb ist es so spannend sich zu Fragen: Was ist da? Und was hat die beiden in solch eine Lage getrieben.
Ich würd gern mehr solche Kommentare schreiben. Im Moment fehlt mir ein wenig die Zeit. Aber, lieber Markus, ich gebrauche dich und deine Kunst gern wieder als Plattform, den eigenen Gedanken nachzuhängen und dir deutlich zu machen, dass ich mich gern mit dir und deinem Werk beschäftige. Und ich weiß(*schluck*) dass da jetzt schon wieder einige Werke auf einen fundierten Kommentar warten...ich werd mir Mühe geben.
LG und Schlaf gut. Katharina.
Tyria 25/07/2012 22:28
Das Foto bekomm von mir gegen Wochenende nochmal einen langen Kommentar. Hab im Moment wenig Zeit.Aber gehört in die Kategorie tippi toppi ;-). Fein gemacht*tätschel*!Schoengeist 24/07/2012 19:34
Wenn das Gesicht der älteren Frau (?) nicht so hager, die Augen so leblos, die Züge so hart wirken würden, könnte ich ja verstehen, warum sich das junge Mädel voller Vertrauen so an sie lehnt.... aber so sieht sie aus, als ob der leblose Körper eher präsentiert wird, nach dem Motto: "Schaut her, so geht es eines Tages euch allen, die ihr sündigt".....Würde gerne mal wissen, was man sich bei diesen beiden dabei gedacht hat....
LG
Jens
Marcus Propostus 23/07/2012 22:51
Die Auskunft geb ich gerne: im Monumentalfriedhof in Mailand steht dieses Ensemble. Und da gibt's noch viele viele andere beindruckende Kunstwerke zum Thema "Vergänglichkeit" zu sehen und zu bestaunen.Herzliche Grüsse
Markus
† Baron von Feder 23/07/2012 22:20
Mit dem Gedicht zusammen wirkt das Bildnis schön. Bild und gedicht bedingen einander, um verstanden zu werden. Wo kann man die Skulptur im Original bewundern?