Stockholm
Lochkamera - 6x12 - Belichtung 20 Minuten.
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„Über die sommerlich beschienenen Hausfassaden huschten
Eidechsen, als unser Schatten sie traf. Aus geöffneten Fenstern
blähten sich Tüllgardinen, nur ein zartes Knistern, ein Rascheln fast.
Aus ihren verwehten Schraffuren fuhr eine Straßenbahn und hielt.
Der Träufel war von gnomenhafter Gestalt. Er schob die hölzerne Tür
beiseite, wir stiegen ein. Die vorderen Bänke waren besetzt.
Dort saßen der Zorn und opake Morphine. Ihnen gegenüber zur Rechten
das Vergessen und die Irrtümer, in der Mitte eine Gruppe von Engeln um
einen Tisch herum, und auf den letzten Bänken, da saßen die Schatten.
Der Träufel zog eine speckig abgegriffene Kordel, die Glocke ertönte
zur Weiterfahrt.
Die Engel spielten. Das Klappern der Würfel im ledernen Becher war zu
hören. Ein Engel sagte: Ich biete noch ein Dutzend.
Ein Rauschen schwoll an und verebbte. Wind! Treibsand, der die
Spuren verwischt.
Der Träufel zog die Kordel, knirschend hielt die Straßenbahn. Reges
Treiben – hinein, hinaus. Die Glocke läutete, die Straßenbahn fuhr.
Wieder sprach ein Engel, ein anderer: Ich biete noch elf.
Von irgendwoher mitgetragen erschien ein Kichern im Wind
und wieder klapperten die Würfel im Becher.
Die Schatten flüsterten. Wir dagegen verhielten uns regungslos und
totenstill. Man würde uns nicht bemerken. Der Träufel zog, die
Straßenbahn fuhr knatternd weiter.
Noch drei Dukaten biete ich.
Wind, Wind –
noch zwei –
noch ein –
Die Wände der Straßenbahn brachen lautlos in sich zusammen,
nur die hölzernen Bänke auf dem gußeisernen Fahrwerk blieben übrig.
Wir standen verwundert auf. Die Engel waren nicht mehr da,
die Schatten auf den hinteren Bänken - fort. Ich ergriff den ledernen
Becher. Er war randgefüllt mit Staub. Und Lilien, ja, Lilien sprossen aus
den Holzrillen der Bänke.
Der Träufel aber schrie uns an:
Raus! Raus! Wollt ihr ewig bleiben, ihr Hunde?
Dann stand ich knöcheltief im Wasser und schaute dem Gerippe der Bahn
hinterher, in der ich selber saß. Die Straßenbahn trieb auf glatten Wassern
dem Spiegel einer Stadt entgegen. Die Lilien jedoch wehten die Straße
hinunter. Die Straße, die wir hätten fahren können, wenn nicht der Träufel
gewesen wäre. Die Stadt an der Peripherie unseres Geistes leuchtete, als
Erinnerung zerbrach.
Nur schwach von dort hörte ich die Glocke. Es klapperten die Würfel im
ledernen Becher. Und er träufelte das Elixir hinein in den großen Strom,
Mechanicus unserer Spanne, der die Zeit bemaß.
~
Nach dem Traum verließ ich mein Haus voll innerer Unruhe, gleichwohl
wissend: Träume sind das Rohe. Bedeutung entsteht erst in der
Konfrontation unseres Urschlamms mit dem Bewußtsein.
An der Straßenecke bei der Blumenfrau blieb ich stehen.
Sie bot Lilien zum Kauf.“
Dr. Gordon Mendenhall
Psychiater
Notizbuch Eintrag 5. Juli 1923
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electric wooly mammoth 11/08/2013 22:45
ahhh ... so sehen also 20 minuten stockholm aus!gut gemacht! gern gesehen!
der beipacktext ist mir eigentlich zu lange. ich weis nicht warum, aber ich hab ihn trotzdem gelesen. zum trotze vermutlich ...
viel eher liegts aber bloß am psychiater ... denn das birgt immer wieder ein stückchen gemütlichen und ganz normalen irssinns in dieser überrationalen hochgeschwindigkeitsgegenwart.
da ich ganz normal bin, führe ich selbstverständlich keine tagebuchnotizen ... sondern lese sie nur!
ewm
† Ute Allendoerfer 08/08/2013 21:18
sehr sanft und sehr angenehm zu betrachten ;)