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Wovor wir die Augen verschließen: Schmetterlingsmücke

Wovor wir die Augen verschließen: Schmetterlingsmücke

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Weißwolf


Premium (World), Güstrow

Wovor wir die Augen verschließen: Schmetterlingsmücke

Viele Tiere polarisieren die Meinungen unter den „normalverständigen, der Natur gegenüber aufgeschlossenen Menschen“ (Standard-Richter-Deutsch), aber auch unter Wissenschaftlern. Dieses kleine Insekt ist darin ein Extremfall, auch wenn es (noch) nicht so bekannt ist und nur Spezialisten der ein oder anderen Richtung damit umzugehen wissen.
Clogmia albipunctata ist eine Schmetterlingsmücke (Fam. Psychodidae), d.h. auch wenn sie den Eindruck zu erwecken vermag, ist sie kein Schmetterling, sondern innerhalb der Ordnung Zweiflügler (Diptera) eine Mücke (Nematocera). Gemeinsam mit anderen Arten der Familie wird sie als „Abortfliege“ bezeichnet, im Englischen auch als „drain fly“ und – vor allem in Nordamerika – als „bathroom moth midge“ oder „bath fly“. Diese und andere Namen gehen auf ihre Lebensweise zurück. Die augen- und beinlosen Larven ernähren sich fast ausschließlich von Mikroorganismen wie Algen, Bakterien und Pilzsporen, die sich auf dem Biofilm von Faulschlamm und vergleichbaren Substanzen befinden, etwa den „Biotopen“ im Inneren alter Leitungen. Vielfach bringen die Mücken, sowohl die Larven als auch die Imagines, ihr ganzes Leben dort zu. Tauchen die erwachsenen Insekten „draußen“ auf, kann man sich ziemlich sicher sein, irgendwo in der Nähe versiffter Leitungen, einer Klär- oder Abwasserbehandlungsanlage zu sein – oder eines Krankenhauses (dazu unten mehr).
Das wiederum hängt in Mitteleuropa mit der Ausbreitung der Mücke zusammen, denn hier tritt sie z.Z. ausschließlich streng synanthrop auf, sie ist also an die Anwesenheit des Menschen gebunden. In tropischen Regionen mit durchgehenden Tag/Nacht-Temperaturen von mindestens 25 °C siedelt sie auch im Freiland. Kürzlich sind dennoch freilebende Exemplare in einer wassergefüllten Baumhöhle in Tschechien entdeckt worden, wo sie aber wahrscheinlich nur ein Irrgast war und nicht überwintern kann. Beheimatet war sie ursprünglich in den Tropen und Subtropen, wo genau, ist unbekannt. Inzwischen gilt sie als weltweit verbreitet, auch in den gemäßigten Zonen sowohl des Nordens als auch des Südens. Bis Mitte der 1990er Jahre hielt man auf Grund ihrer klimatischen Ansprüche den 43. Breitengrad für die nördliche Verbreitungsgrenze. Diese verschob sich bis 2015 auf den 53. Breitengrad, zuletzt (2019) wurden die ersten Exemplare in Süd-Finnland (Helsinki, Kotka) gefunden, so dass die Grenze derzeit auf dem 60. Breitengrad liegt. Es ist davon auszugehen, dass sich C. albipunctata nur mit direkter menschlicher Hilfe so weit ausbreiten konnte. In Frage kommen dafür in erster Linie Lebensmitteltransporte, die Wasseraufbereitungsanlagen in Schiffen sowie deren Ballastwasserbehälter.
Der Lebenszyklus ist relativ kurz. Unter optimalen Bedingungen ist die Embryogenese im Ei nach 3 Tagen abgeschlossen, es folgen vier Larvenstadien, die insgesamt durchschnittlich 18 Tage bis zur Verpuppung benötigen, und schließlich 5 Tage im Puppenstadium. Das adulte Insekt lebt 10 bis 12 Tage. Im Gegensatz zu vielen anderen Schmetterlingsmücken, die bis zur Funktionslosigkeit reduzierte Mundwerkzeuge besitzen, können die Imagines dieser Art Nahrung aufnehmen, die aus Kohlenhydraten besteht, deren Quellen Nektar und Pflanzensäfte sind.
Die Lebensweise der Larve ist für Kläranlagen, die Abwasserbehandlung und ähnliche Branchen einschließlich der Schadstoffbeseitigung und damit für den Menschen von enormem Vorteil. Sie verwertet all das, was wir im Abwasser und in Ausscheidungen loswerden wollen, verarbeitet es zu „neuer“ Biomasse, die sie mit ihrem Körper in den Stoffkreislauf zurückführt, u.a. als Nahrung für andere Insekten, Krebse, Spinnen, Amphibien und Vögel. Mit den Worten des Missouri Department of Conservation: „sie reinigt das Wasser, säubert und entgiftet die Umwelt und spielt eine wichtige Rolle bei der Zersetzung organischen Materials“.
Der Preis dafür kann allerdings hoch sein – und ist nicht lecker. Einmal abgesehen davon, dass ein Massenauftreten der bis zu 3,5 mm großen Mücken zumindest lästig fällt (wenn auch nur von kurzer Dauer), lebt sie in unmittelbarer menschlicher Nähe und ist dann ein Gradmesser der Hygiene. Überall, wo es feucht bis nass ist, Wasser fließt und die Hygiene vernachlässigt wird, können sich die Larven einnisten – die Trivialnamen zeugen davon. Die Mückenlarven selbst sind zwar unsere Helfer, sie können jedoch auch die Mikroorganismen verschleppen, von denen sie sich ernähren. Darunter befinden sich einige gefürchtete, multiresistente Krankenhauskeime wie Acinetobacter baumannii. Spätestens dann wird die Schmetterlingsmücke als Vektor zum Problem, wenngleich das Problem menschengemacht ist und das Insekt eher ein antagonistischer Anzeiger für die Hygieneverhältnisse des Ortes ist, an dem sie gefunden wird. Wenig überraschend ist es daher, dass sich die bedeutenden Vorkommen in Deutschland derzeit auf Krankenhäuser konzentrieren.
Ein anderes gesundheitliches Problem ist die sog. Myiasis, mit der hierzulande kaum ein Mensch etwas zu tun hat. Die Mückenlarven können nämlich auch in den menschlichen Körper gelangen und sich dort ernähren. Das machen zahlreiche Vertreter anderer Fliegen- und Mückenfamilien mit z.T. drastischen gesundheitlichen Folgen, bei C. albipunctata verläuft der Befall nach derzeit bekannten Vorkommnissen harmlos (dokumentiert in Ägypten, Palästina, Indien, Malaysia, China, Taiwan). Die Larve kann durch Öffnungen des Körpers eindringen und verlässt ihn wieder vor der Verpuppung, ohne einen Schaden anzurichten. Das erfolgt in der Regel über den Harn- oder den Verdauungstrakt; in einem Fall bemerkte eine Frau in Indien nach dem Zähneputzen zwei Mückenlarven, die sie unbemerkt im Mund hatte.
Die Mücke ist zudem extrem widerstandsfähig. Mit ihrer dichten, hydrophoben Behaarung ist eine direkte Bekämpfung nahezu aussichtslos. Wasserbasierte Gifte können weder dem Falter noch den Larven etwas anhaben, selbst kochendes Wasser können sie kurzzeitig schadlos überstehen. Die Eier sind hochgradig resistent gegen chemische und thermische Angriffe sowie gegen Austrocknung. Es bleibt allein die permanente Hochdruckreinigung der betroffenen Leitungssysteme für mindestens drei Wochen, die den Larven die Nahrungsgrundlage raubt und sie an der Wiederkehr hindert.
Man wäre wohl überrascht, wenn man in Duschkabinen und deren Schläuchen, in Toiletten- und Spülbecken, in Klimaanlagen und den Auffangbehältern von Gefriertruhen, in Regentonnen und Swimmingpools genauer hinsehen würde.
Die Schmetterlingsmücke vereint in seltener Perfektion Nutzen und Schaden für den Menschen. Andererseits ist sie aber ein ebenso perfekt angepasster Organismus widriger Umweltbedingungen – widrig aus dem Blickwinkel des Menschen, optimal hingegen aus dem des Insekts. Mit dem Neuankömmling im nördlichen Mitteleuropa wird es spannend zu sehen, wohin die Entwicklung im Rahmen einer Klimaveränderung gehen wird.

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