... flying ...
Während ich Guerdo noch einmal erkläre, was ich mit Bildern und Geschichten mache, bemerke ich wie Deryll einen weiteren Schuss vorbereitet.
„Für Mike .... Eye! Mike .... beweg Deinen Arsch hier rüber .... wie lange soll ich denn noch warten .... ich glaube, ich spritze mir das Zeug selbst .... Komm schon, komm schon!!!“
Schon auf dem Weg aus seinem Zimmer heraus wickelt sich Mike seinen Hosengürtel um den Arm. Die ganze Sache ist in Sekundenbruchteilen erledigt. Ich habe meine anfänglichen Hemmungen überwunden und die ein oder andere Aufnahme gemacht. Während ich mich frage, warum ein Junk dem anderen die Spritze herrichtet, löst Mike seinen Gürtel und stöhnt behaglich auf. Er ist an die 2 Meter groß und schaut lächelnd zu mir herunter. Ich sitze wieder auf meinem Stuhl und komme mir vor wie ein Zwerg. „Guuuuut .... Du solltest es auch einmal versuchen?“ Er schmunzelt, hat sich einen Scherz erlaubt. Wir wissen es alle; dennoch lehne ich dankend ab. Lächelnd verschwindet Mike in seinem Zimmer .... Das Rascheln einer halbgefüllten Luftmatratze ist das letzte, was ich für die nächste Zeit von ihm höre.
Guerdo widmet sich wieder seiner Zeitschrift und ich komme mit Deryll irgendwie darauf zu sprechen, seit wann er Drogen nimmt. Schon die Haltung, die er einnimmt verrät mir, dass er über dieses Thema gerne spricht ....
„Weißt Du ... ich bin in den Fünfzigern geboren. Als die Welt in den Sechzigern Kopf stand und jeder machte was er wollte, war ich ein Teen, der etwas erleben wollte ....“
Deryll begibt sich auf eine Reise in die Vergangenheit. Wir rauschen durch die Jahrzehnte und halten an kleinen Episoden seines Lebens für einen Augenblick an, bevor wir uns wieder in den Wirbel der Jahre stürzen.
„Alle nahmen Drogen damals .... es war eine wilde Zeit ... all dieses Hippie-Zeug. Damals hatte ich echt lange Haare! Wir haben alles ausprobiert: Stoff, Alkohol, freie Liebe .... es konnte nie genug sein. Die Szene war da und ich bin voll hineingerauscht – eine coole Zeit mit coolen Leuten! Mensch ... die Musik damals ... die Partys .... die Weiber .... das war mit nichts zu vergleichen. Die Siebziger gingen noch einigermaßen ... Achtziger und Neunziger? Bäh .... langweilig!
Irgendwann habe ich eine Familie gegründet ... habe ein Doppelleben geführt .... an den Wochenenden waren wir völlig zu und ich habe mit den Jungs abgehangen, mich herumgetrieben. Am Montagmorgen musste man wieder zur Arbeit. Du hast den Scheck für das nächste Wochenende gebraucht. Es war zum Kotzen, aber es ging nicht anders .... Wäre es nach mir gegangen, wäre ich nur noch zu gewesen!
Ich habe drei Kinder. Sie wohnen alle in Houston. Die beiden großen werden sicher etwas ... sie haben einen Job und verdienen Geld. Mein Jüngster ist allerdings so wie ich ....er hält es nirgendwo lange aus .... ihm stinkt die Arbeit ... lässt sich nicht gerne herumkommandieren. Er war im letzten Jahr hier .... Mike hat ihn hier wohnen lassen und wir haben uns zusammen auf der Straße herumgetrieben. Wir haben nächtelang zusammen gesoffen. Ich mache mir nicht wirklich Sorgen ... er schafft es ... er ist ein cleverer Bursche...“
Hoffnung stirbt als letztes, denke ich mir und registriere, wie sich Deryll lächelnd in seinen Gedanken an eine andere Zeit verliert. In dieser Phantasie scheint alles gut zu sein, alles eine einzige Party, weit weg von der Realität des Hier und Jetzt.
Er reagiert belustigt, als ich ihn nach seiner Frau frage und danach, ob sie seinen Lebensstil geteilt hat.
„Manchmal hat sie auch Drogen genommen .... aber bei weitem nicht so wie ich. Irgendwann hat sie einfach aufgehört, blieb nur noch zu Hause. Als wir uns trennten hat sie mir gesagt, dass sie mich schon jahrelang nicht mehr leiden hat können und nur wegen der Kinder nicht schon vorher einen Schlussstrich gezogen hätte ... Sie sagte: Du ekelst mich an ... egal ob nüchtern oder betrunken!“ ... Er lacht laut - aber künstlich - auf ....
„Ja ... irgendwie hast Du recht ... eigentlich war das den Kindern gegenüber eine faire Sache ...“
Als hätte jemand einen Schalter umgelegt, sackt er in sich zusammen. Ich kann nicht beurteilen, ob es mit der Wirkung der Drogen zusammenhängt oder mit den aufkeimenden Erinnerungen an sein früheres Leben ... Deryll wird wortkarg.
Er hat seine Reiseflughöhe verlassen und sinkt langsam nach unten ....
Fortsetzung folgt!
Nächstes Bild der Serie:
Jörg Böh 26/10/2003 18:35
Riesenseufz... Ja, sehr gute Arbeit, fotografisch wie redaktionell!LG
vom Redakteur
Jörg
Marijan G. 24/10/2003 18:56
Stark. Story auch.Gruss
Marijan
Kai Rickert 23/10/2003 6:03
anfangs hatte ich ja leichte Probleme mir die langen Texte durchzulesen...aber mittlerweile bin ich fast traurig wenn ich schon am Ende damit bin :-(Die Story weckt Erinnerungen...achja die siebziger, für mich auch die einzig wahre Zeit, in der man sich noch getraut hat außerhalb des Systems zu denken, schade, das die meisten Sachen auf halbem Weg steckengeblieben sind. Wenn ich bedenke was aus den vielen guten Ideen geworden ist... ich kann es gut nachvollziehen, das mancher sich nicht damit abfinden will und sich lieber zudröhnt...
schade die wärn sicher toll, wenn sie noch klar wärn und Lust und Energie hätten, die heutige Zeit etwas aufzumischen.
Wenigstens habe ich dreimal in meinem Leben jemanden getroffen, der es tatsächlich geschafft hat, aus den Idealen von damals einen echten Lebensstil zu machen und dabei locker und authentisch zu bleiben...
Birdies Landscapes 23/10/2003 4:01
knallhart und doch so realistisch. sehr interessante dokumentation. keine einfache aufgabe, die du dir damals vor comp usa gestellt hast, und doch bist du dabei sie sehr gut umzusetzen. hut ab...lg birdy
Thomas Meyer 22/10/2003 21:44
Gut, außer dem Schlagschatten. Aber ich weiß - ging nicht anders. ;-)Gruß, Thomas
Chris Waikiki 22/10/2003 16:03
Hautnahe Geschichte ... auch eine Art zu leben ... und mit dem Leben fertig zu werden.lg Chris
O. B. 22/10/2003 13:22
Geht unter die Haut, beeindruckende Serie...art-kassel 22/10/2003 12:55
...lg Knut
Wurzn Sepp 22/10/2003 12:21
einfach klasse, dirk!:))
Dirk Hofmann 22/10/2003 9:08
ich danke euch!nanas anmerkung gefällt mir besonders, stellt sie doch fest: er treibt etwas mit der hand ... (tatsächlich gestikuliert er).
an und für sich nichts besonderes, aber während des ganzen gesprächs hat sich deryll kaum bewegt, geschweige denn, daß er häufig aufgestanden wäre.
aber gerade in dieser phase war er hoch aktiv und hat seine worte gestenreich unterstützt ... etwas, das ich zeigen wollte ...
so, für mich ist es nun zeit für die kiste .... ihr seid schon alle auf der arbeit ... ich habe noch ein paar stunden schlaf vor mir ... ;-)
gute nacht da draußen
Fernando O.M. 22/10/2003 8:46
Die Reportage ist einfach klasse. Der Text ist wirklich gut geschrieben. Danke!Gruß Fernando
Uwe Henschen 22/10/2003 8:25
hallodu hast hier eine spannende geschichte erzählt. die mir mal wieder klar macht wie verschieden die menschen sind. eine klasse reportage die du vielleicht noch in anderen medien veröffentlichen solltest. probier es einfach.
bdd
Günter Rolf 22/10/2003 7:59
die situation ist gut in bild und wort festgehalten.. lg günter
Barbara Langer 22/10/2003 7:12
gern nehme ich mir immer die zeit für deine texte. sie sind genauso spannend, wie die bildergruss, barbara