Das Rotsäckchen
Ein Spontan-Märchen für verregnete Tage
Es war einmal eine alte Dame in einer großen Stadt. Kaum jemand kannte sie.
Sie lebte überwiegend nur in ihrer Wohnung und verließ diese nur, wenn die
Nachbarn arbeiteten, Mittagsschlaf hielten oder in den Urlaub verreist waren.
Die alte Dame hatte einen Hausfreund, das Rotsäckchen; einen Wanderruck-
sack in roter Farbe. Seit Jahren gingen sie gemeinsam auf lange Spaziergänge
und so waren sie mit der Zeit richtige Freunde geworden. Wie Herr und Hund.
An einem Samstag war es wieder soweit. Die Sommerferien waren angebroch-
en und alle Nachbarn in den Urlaub gefahren, dorthin, wo alles inclusive war,
auch der Sonnenbrand. Die alte Dame sprach zum Rotsäckchen „Ahoi, liebes
Rotsäckchen, heute geht es in den Wald. Ich werde dich gut packen, damit ich
für den langen Spaziergang genug zu Essen und zu Trinken habe.“ Da freute
sich das Rotsäckchen und vollführte einen Luftsprung mit abschließendem Sal-
to, ganz nach dem Geschmack der alten Dame. Nachdem alles gepackt war
und die alte Dame, nennen wir sie einfach mal Großmutter, sich in ihre Wander-
klamotten geworfen hatte, ging es auch schon los. Zum Wald waren es nur ein
paar Katzensprünge, die die Großmutter ohne Bus und U-Bahn gut bewältigen
konnte. Und dann tauchten sie auch schon ein, in den großen stillen Wald. Sie
gingen zu dem Teil des Waldes, der sich selbst überlassen war und sozusagen
wild vor sich hinwachsen konnte. Der schönste Teil des Waldes, befand die
Großmutter. Nach einer Weile kamen sie an einen alten umgefallenen Baum,
der eine gute Sitzgelegenheit bot und zum Verschnaufen einlud. Wie die Groß-
mutter das Rotsäckchen abgelegt hatte und sich mit dem Taschentuch den
Schweiß aus dem Gesicht wischen wollte, kam der alte Wolf vorbei und setzte
sich schnurstracks neben die Großmutter. Dabei rutschte das Rotsäckchen un-
bemerkt hinter den Baumstamm. Der Wolf hatte einen Picknickkorb dabei, mit
einem frisch gebackenen und herrlich duftenden Gugelhupf, ein paar Fläschch-
en Likör, darunter auch Kirschlikör, ein paar Flaschen roten Wein und zwei Fla-
schen alten Sherry. Auch gebratene Hähnchenkeulen aus Tofu waren im Korb,
gut zu beißen und zu kauen, auch ohne Zähne. Und eine Stange Weißbrot,
nicht vergessen. Zur Efrischung, ein Fläschchen 4711, aus der guten alten Zeit.
Ein gut situierter Herr, dachte die Großmutter und die Angst vor dem Wolf nahm
deutlich ab. Sie kamen ins Gespräch, über Gott und die Welt und über das Alter
und die zunehmenden Einschränkungen. Ein echtes Fachgespräch. Dabei aßen
sie vom Gugelhupf und tranken das ein und andere Likörchen, besonders das
Kirschlikörchen schmeckte der Großmutter vorzüglich. Der Wolf erwies sich als
echter und großzügiger Gastgeber und als ausgezeichneter Gesprächspartner.
Irgendwann, als der Kirschlikör schon längst getrunken und der Gugelhupf ge-
gessen und der alte Sherry zur Hälfte getrunken und man schon lange beim Du
war, fragte der Wolf die Großmutter, ob man nicht zusammenziehen und den
Rest des Lebens gemeinsam verbringen wolle. Man könne sich so gegenseitig
helfen und aufeinander acht geben, in guten, wie in schlechten Zeiten. Für die
Großmutter kam dieses Angebot doch überraschend. Aber nachdem sich auch
die zweite Flasche alten Sherrys langsam leerte, sagte sie mit fester und über-
zeugender Stimme: ja, ich will ! Als der Picknickkorb deutlich geleert und auch
die Sonne schon langsam unter ging, brachen sie schließlich auf und ließen
das Rotsäckchen im Wald zurück. Aus dem Sinn, aus dem Auge.
Der Wolf zeigte der Großmutter seinen großzügigen Wolfsbau, mit fünf großen
Räumen und einem Wohlfühl-Wohnzimmer mit Flachbild-TV, extra groß, für alte,
müde und schwache Augen, extra flach, für leichte Kost. Dazu eine Sound-Anlage
mit einem guten Ton, für alte, schwache und müde Ohren.
Die Großmutter fühlte sich sofort wohl und vergass das Rotsäckchen endgültig.
Das Rotsäckchen war von der Begegnung mit dem Wolf nicht begeistert gewesen
und beobachtete den Verlauf des Tages mit skeptischer Mine. Es war beim Aufein-
andertreffen mit dem Wolf hinter den Baumstamm gerutscht und somit aus den Au-
gen der Großmutter geraten. Ob der Wolf dabei seine Hand im Spiel hatte ist nicht
überliefert. Das Rotsäckchen mußte mit ansehen, wie der Wolf und die Großmutter
sich immer besser verstanden und sich langsam näher kamen, um dann, bei einset-
zender Dunkelheit, gemeinsamen Weges davon gingen und das Rotsäckchen zu al-
em Verdruß zurück ließen. Zuerst ärgerte sich das Rotsäckchen vor Wut grün, dann
blau, dann schwarz und hielt zu guter letzt die Luft an, bis es platzten wollte. Was ja
bei einem Rucksack nicht möglich ist. Plötzlich näherten sich Schritte. Zwei Kinder,
ein Mädchen und ein Junge, die ihre Eltern verloren und sich im Wald verlaufen hat-
ten, kamen an den Baum und fanden das Rotsäckchen. Der Junge hob es auf und
sah hinein. „Schau nur Gretel, hier ist genug Essen und Trinken für uns beide“, rief
er erfreut zu seiner Schwester. „Oh wie schön, Hänsel. Ich habe so einen großen
Hunger“, antwortete Gretel. Sie aßen und tranken in dankbarer Freude und nahmen
sich des Rotsäckchens an. „Du gehörst jetzt zu uns“, sagte Hänsel und so fand denn
auch das Rotsäckchen neuen An . . Schluss. !
Piece-of-soul 05/12/2024 14:40
Eine sehr phantasievolle Geschichte :-) und ansprechend geschrieben, so das man lust hatte zu lesen. Danke dafürCornelia H.B. 24/09/2024 20:47
sehr nettes Märchen :-))) hab's auch GANZ gelesen! LG Corneliapeju 02/08/2023 13:10
....und wenn sie nicht gestorben ist...So enden doch die meisten Märchen.
Das mit dem großen bösen Wolf?
Habe ich auch mal in einem meiner Märchen verwurstet.
Da lebte der dann friedlich und satt bei der Großmutter und vertrieb die Bösewichte.
Gruß
Peter
HJ.B. 24/07/2023 6:44
Das gegenwärtige Leben schreibt leider andere Märchen.Herzliche Grüße
Hans Jürgen.
Conny11 23/07/2023 23:17
;-) sehr fantasievoll, eine tolle Geschichte.LG zu dir, Conny
gabi44 23/07/2023 18:04
Bei solch einem modernen Wolf wird sich die Großmutter sicher wiederjung fühlen - aber weil der Wolf zum Abschuß frei gegeben werden soll,
muß sich Großmütterchen hüten, nicht schon bald als Wolfs-Witwe
zu enden:) Eine tolle Geschichte, die Du uns hier servierst. Habe sie
gelesen und muß sagen: mit viel Empathie für die Protagonisten und
mit dem Erzähler selbst :))) !!!
lg gabi 44
Michael Jo. 23/07/2023 17:45
nette Geschichte,haaaach ... ;
und wo doch jetzt diese Barbie-Verfilmung
in die grossen Kinos kommt ..;
nein, dass Du doch noch echten Stoff für
so'ne Geschichte hochgeladen hast ..
- da fällt mit doch glatt diese Meloday
aus der Sandmännchenzeit meiner Tochter
und der Enkel ein:
" Kinder, liebe Kinder, lie-be Kin-der
ich sag' Euch Gute Nacht ..; nun schnell
in's Bett .. u-und schlaaaft re-echt schön ... "
und auch die Gropmutter und ihr Wolf
krochen unter die wollig-wohlige Daunen-Decke .. und all der Alki liess sie bald ein- .. (?)
aber nein: nur den Wolf Ein-Schnarchen ..,
und zwar sooo fest und laut, dass die alte
Dame kein Auge zumachen konnte ... , wieder
aufstand und in dem alten Wandschränckchen über dem Waschbecken nach ihren längst abgelaufenen Baldrian-Kapseln suchte ... ;
doch bitter wie diese ölige Ingredienzie
schmeckte, spuckte sie die augenblicklich
wieder aus;
doch der (oder sacht man das ..?) Flakon mit dem konzentrierten Baldrianöl hatte sie mitllerweise ganz vergessen:
es war noch verschlossen - und das Haltbarkeits-
Datum noch nicht vollends überschritten.
Sie nahm einen Teelöffel voll des Stoffes,
legte noch ein Zuckerstück dazu, und schlurfte
in die Küche, um mit dem letzten Rest vom
edlen Schnäpschen sich diesen besonderen
" Magenbitter " etwas probater zu mixen ...
- und wenn sie nicht gestorben sein wird in dieser Vollmondnacht, dann besorgt sie
sich als nächstes eine grosse Packung Ohropax
und stellte dem alten Wolf die eine Bedingung:
nur wenn er sich im Schlaflabor und beim
HNO eine dieser Antischnarchmasken verordnen liesse,
dürfe er weiterhin Tisch und Bett mit ihr
teilen ..; - doch wenn nicht, möge er sich im Holzschuppen nebenan für weitere Nächte
einrichten .... oder sich beim Ball der einsamen
Herzen eine andere Bettgefährtin tendern ...
-ansichtssache- 23/07/2023 17:31
'Fantastisch' kommt von 'Fantasie' , und damit bist du fürwahr gesegnet. Vielen Dank für diese wundervolle Sonntagnachmittaggeschichte, sehr bildhaft vorgetragen, so dass man sich alles bestens vorstellen kann.....und ich glaube sogar, ich weiß von welchem Wald du sprichst....;-))Liebe Grüße, Danny
JEAN72 23/07/2023 13:29
Hallo Neydhart, tolles Märchen. Die Stelle mit dem Tofu fand ich schon sehr speziell. Und gleich ein paar Fläschchen Likör, ein paar Flaschen Rotwein und zwei Flaschen Sherry. Oha, da konnte die Großmutter kaum noch laufen. Kein Wunder, dass sie das Rotsäckchen vergessen hat. Herrlich, gleich mehrere Märchen kombiniert zu einem Bild. Ich wünsche dir einen schönen Sonntag, liebe Grüße JeanMaringe 23/07/2023 12:43
Einfach mitgenommen werden, wie es Geschichten vermögen.Lieber Neydhart, du bist ein phantastischer Rastgeber.... Grüße mit Regen aus dem Siebengebirge, Karin