Ein trauriger Anblick
89 Jahre lang wohnte Johanna in diesem Haus. Fünf Jahre lang wohnte sie im Altersheim. Im Vordergrund der frisch gemähte und weitum gepflegteste Rasen in der Nachbarschaft. Im Hintergrund... das Ergebnis von fünf Jahren Altersheim. Da ich leider selbst nicht mehr in unserem Haus wohnte seit sie im Altersheim war, sah ich leider nicht, ob ab und zu Schafe in diesem Rasen standen um das Gras zu fressen, wie damals als Johanna noch hier wohnte. Ich glaube aber schon.
Die Fenster des Hauses und die Vorhänge dahinter sehen jedoch nicht aus, wie wenn jemals wieder die Scheiben geputzt worden wären. Wozu auch... Es war ja niemand mehr drin, der hätte hinausschauen können.
Ich sehe das Innere des Hauses noch vor meinem geistigen Auge, als wär es gestern gewesen. Ich sehe noch die lachende Johanna, wie sie an ihrem hölzernen Stubentisch sitzt auf einem der Stühle, die so dünn waren, dass ich immer Angst hatte, auf einmal am Boden zu hocken. Wie sie die kleine Schublade am Stubentisch aufzog und mit ihren versteiften Fingern versuchte irgendetwas herauszukramen: Ein Büchlein, ein Heiligenbildlein, etwas, das sie einmal aus der Zeitung ausgeschnitten hatte und bis vor einiger Zeit auch noch die Jasskarten. Mit einem lieblichen Gesichtsausdruck, einem unvergleichlichen Lächeln. So... selbstlos und unschuldig... eins mit sich und Gott und der Welt... man möchte fast sagen heilig. Sogar glaubwürdig. Es war auch dieses Lächeln, das ich an ihr immer bewunderte. Es strahlte eine Herzensgüte ohne irgendwelche Ansprüche aus.
Ich weiss nicht, ob sie mit diesem Lächeln begraben wurde. Ich schaffte den Anblick ja nur bis zum ersten Auge.
Wenn ich aus dem Fenster schaue zu ihrem Haus hinüber, seh ich den Nussbaum und denke daran, dass sie ihn als Mädchen gepflanzt hat. Diese kleine, zerbrechliche Frau diesen grossen, mächtigen Nussbaum. Dann seh ich den herunterhängenden Ast und frage mich: "War der früher schon? Oder fängt der Baum an zu schwächeln?". Dann denke ich an die Fenster, die man von der Hauptstrasse aus sieht und an die Risse, die sich durch die Fassade schlängeln und denke: "Weint das Haus?". Wenn der Wind bläst und die hohen Gräser sich beugen, wird der Nussbaum zur Trauerweide. Und dann spüre ich diese Kälte wieder. Die Kälte, die überall in dem Haus war. Johanna besass keine Ölheizung. Sie konnte nur die Küche und das Wohnzimmer mit Holz beheizen. Dies tat sie aber nur, wenn jemand zu Besuch kam. Ihr selber mache diese Kälte nichts. Ich bin mir heute nicht mehr so sicher, ob das die Wahrheit war oder ob sie viel mehr einfach zu schwach war, und nicht genug auf ihr eigenes Wohl hielt, um auch für sie zu heizen.
Diese Kälte sitzt mir in den Knochen, wenn ich über die Zukunft dieses Hauses nachdenke. Eines ist mir klar: Es wird nicht mehr "mein altes Bad Ragaz" sein, wenn es abgebrochen wird. Und es ist bereits nicht mehr "mein altes Bad Ragaz", weil Johanna nicht mehr da ist. Und die ganze Story scheint darauf hinauszulaufen, dass ich gestern mit Johanna auch ein grosses Stück Kindheit und Jungend zu Grabe getragen habe und erst jetzt realisiere, was es bedeutet 94 Jahre alt zu werden. Wieviel Lebensabschnitte da sind, viele Anfänge und Abschiede. Der Pfarrer sagte: "...aber meistens sind es gerade die schwierigen Situationen im Leben, die einen prägen."
Und ich fange an zu verstehen, wieso die alten Leute meistens zufrieden sind, aber gerne von dieser Welt gehen.
Ach ja, und noch was. DIES ist Johanna's Haus.
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Das hier war eine Lüge:
Es ist nur ein anderes Haus aus der Nachbarschaft. Aber kommt's drauf an?
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Thomas Sommer. 15/07/2006 2:29
+++Ute Witzel 28/05/2006 15:27
Jetzt, da Du die Geschichte mit uns teilst, sehe ich genau, dass Johanna Spuren hinterlassen hat, zumindest in Deiner Seele und also nicht ganz fort ist.Durch Deine Worte, haben wir, die wir die Geschichte lesen, jeder ein Stück von ihr im Herzen.
Übrigens hast Du Deine Kindheit nicht zu Grabe getragen, sondern nur diesen Abschnitt endgültig abgeschlossen. Wie Du selber schreibst, fängt ein neuer Abschnitt Deines Lebens an, der das Wissen um die Vergänglichkeit der Dinge enthält, das Dir bis dahin noch gefehlt hat. Dieses Wissen läßt uns intensiver leben.
LG Ute
Heinz G 28/05/2006 6:52
Ja, wer sagt dass sie es nicht kann. Danke Denise das du diese Geschichte mit uns geteilt hast. Wieviele Leben sind dahin gegangen, unbeschrieben und unbesungen, Personen die nur selbstlos andren Liebe gezeigt haben, und es tut uns weh wenn wir die Orte sehen , vieleicht verwahrlost die ploetzlich niemandem mehr wichtig sind. Sind sie es? Aber ich weiss von jemandem der ein grosses Buch hat und wo alle Dinge aufgeschrieben sind, und ich glaube dass dieses Leben nur eine Schule fuer das naechste ist beziehungsweise war. Jedes Alter, jeder Lebensabschnitt hat seine eigenen Freuden,Tests und Proben und Belohnungen. und das Alter ist vielleicht der letzte Test im Leben, wo wir vielleicht einsehen das das einzige wichtige ist vielleicht anderen Guete und Liebe zu zeigen. Nue ein Leben, es ist bald vorbei, , nur was wir in liebe tun wird verbleiben. Joanna ist sicherlich zu ihrer Belohnung gegangen und gluecklich jetzt wo sie ist. Wer seinen Glauben verliert, verliert es Alles. Viele liebe Gruesse. HeinzTimo Schwede 27/05/2006 23:43
Hui jetzt ist mir ein bischen ein Schauer über den Rücken gelaufen. Eine wirklich beeindruckende Geschichte über Johanna und das Haus. Hast du sehr schön geschrieben. Ich wette sie wäre sehr gerührt wenn sie es lesen könnte. Aber vielleicht kann sie es ja? LG Timo