Lighthouse
Song Dong: Everywhere (2016/17). Marta, Herford, 2018
„Überall“ – so lautet die deutsche Übersetzung des englischen Titels „Everywhere“. Der pavillonähnliche, polygonale Bau mit einem Durchmesser von neun Metern, der gut sichtbar im Marta-Dom platziert ist, könnte auch an jedem anderen Ort stehen. Angelehnt an eine mongolische Jurte, eine nomadische Wohnstruktur, bildet das Museum nur einen temporären Aufenthaltsort für das Werk. Die Möglichkeit des Weiterziehens und der Neuinstallation an anderer Stelle ist wichtiger Bestandteil.
Die von außen durch geometrische Bauteile und aneinandergereihte bunte, teils verspiegelte Fensterrahmen klar definierte Form scheint sich im Inneren komplett aufzulösen. Hunderte Lampen, Wand- und Bodenspiegel gaukeln den Betrachter*innen einen endlosen, wieder und wieder verschachtelten Raum vor. In dessen Weite, Höhe und Tiefe droht man sich zu verlieren. Diese visuelle Irreführung fasziniert und verunsichert gleichermaßen. Der Spiegel als Motiv zur Selbsterkenntnis und als Verweis auf zwei Welten, ein Innen und Außen, impliziert ebenso größere gesellschaftliche Zusammenhänge. Song Dong geht in seinem künstlerischen Werk meist von kleinen, persönlichen Begebenheiten aus, die er schließlich in einen übergeordneten globalen Kontext stellt. Die Position des Individuums in einer Gemeinschaft ist dabei ein wichtiger Aspekt seines Schaffens.
Die verbauten Materialien hat der Künstler über mehrere Jahre auf Abrissbaustellen der traditionellen Hutongs, die bis in die 1990er Jahre vorherrschende Wohnbebauung in Peking, gesammelt. Sie sind Relikte einer vergangenen Zeit, die Song Dong vor dem radikalen städtebaulichen Wandel und dem unaufhaltsamen Wachstum der Weltmetropole retten konnte. So wie sich die urbanen Strukturen Chinas drastisch verändern und ganze historische Stadtviertel ausgelöscht und ihre Bewohner*innen umgesiedelt werden, so droht auch ein damit einhergehender Verlust der traditionellen Kulturen in der Stadt. Als Zeugnisse dieser Wandlungen verwendet Song Dong nun die Fenster und Türen und belebt sie in seinen Kunstwerken neu. Wie bei einer Organtransplantation werden sie sinnbildlich einem nicht mehr intakten Organismus entnommen, um ihre Funktion in einem neuen Körper wieder aufzunehmen.
Indem er diese kulturellen Erinnerungsstücke in die Jetztzeit überführt, thematisiert er Formen des gesellschaftlichen Miteinanders und die Möglichkeiten zur Gestaltung städtischer Räume. Der Pavillon verweist somit nicht nur auf die Vergangenheit, sondern soll auch gegenwärtig einen Ort der Auseinandersetzung und Kommunikation schaffen. So wie die mongolische Jurte auf kleinstem Raum alle wichtigen Funktionen des täglichen Lebens erfüllt, bietet auch die Installation Besucher*innen und Gruppen die Möglichkeit, diese für ihre Bedürfnisse zu nutzen – ob als inspirierenden Ort für Besprechungen, philosophische Diskussionsrunden oder zur Suche der eigenen Mitte durch Meditation oder Yoga. Die verwirrende Unübersichtlichkeit der räumlichen Struktur kann hier im ganz klassischen labyrinthischen Sinne zu mehr Orientierung und Stärkung der eigenen Position führen, sofern man in der Lage ist, die räumliche Überforderung auszuhalten und sich auf die Auseinandersetzung damit einzulassen [...].
Song Dong wurde 1966 in Peking geboren, wo er auch heute noch lebt. Er genoss eine für seine Generation in China übliche klassische Malereiausbildung und schloss 1989 sein Studium an der Capital Normal University in Peking ab. Seit den 1990er Jahren zählt er zu den wichtigsten Vertretern chinesischer Konzeptkunst und sein künstlerisches Schaffen vereint heute eine Vielzahl von Medien. Er ist international in Ausstellungen vertreten, unter anderem in Einzelpräsentationen im Groninger Museum, der Kunsthalle Düsseldorf, im MoCA Taipei, im Barbican Centre London, im UCCA Peking und MoMA New York. Zudem zeigt er seine großformatigen Installationen auf der documenta 13 sowie der Venedig- und Sydney-Biennale.
(Guide. Willkommen im Labyrinth – Künstlerische Irreführungen. 23. Juni – 23. September 2018. Marta Herford, S. 63-65)
„Das Verborgene und Rätselhafte befremdet und fasziniert zugleich. Obwohl es oft nicht leicht scheint, Irritationen und visuelle Irreführungen auszuhalten, kann es durchaus Genuss und Offenbarung sein, sich in unerwarteten Strukturen zu verlieren. Mit sechs großformatigen Rauminstallationen, die das Museumsgebäude zum Teil tiefgreifend verändern, eröffnet diese Ausstellung ein sinnliches Erlebnis ganz eigener Prägung.
Vom Ornament über den Barockgarten bis zum Spiegelkabinett – als bewusste räumliche Irreführungen dienen Labyrinthe oftmals der Unterhaltung. Obwohl sie die Orientierung nehmen, beruhen sie auf einer geheimen Ordnung, die sich vielfach erst aus der Vogelperspektive offenbart.
Der Verlust von Übersichtlichkeit scheint in einer globalisierten Welt ein allgegenwärtiges, existentielles Thema. Das Labyrinthische beschäftigt daher verstärkt auch zeitgenössische KünstlerInnen – ganz gleich ob als Symbol für einen Lebensweg, als Abbild städtebaulicher Strukturen oder als Metapher für den hoch dynamischen Datenverkehr. Für die Ausstellung verwandeln sie kritisch und lustvoll das Innere des Museums in einen inspirierenden Parcours, der das Labyrinthische als meditative Denkfigur präsentiert und sich zugleich als die Sinne herausfordernde Körpererfahrung darstellt.
Künstler*innen
Anne Hardy, Peter Kogler, Christian Odzuck, Royden Rabinowitch, Chiharu Shiota, Song Dong“
https://marta-herford.de/ausstellungen/willkommen-im-labyrinth/
https://www.shazam.com/de/track/53129039/a-hard-world-like-this
Jadugaar 10/12/2019 21:15
Konstruktive Desorientierung, nichts hilft schneller und besser, sich der Bodenhaftung zu vergewissern und Erdung herbeizuführen. Wie nebenher stellt sich möglicherweise wieder einmal die Frage: Wer bin ich? Wo komme ich her, wo möchte ich hin? Weshalb und wofür? Ein guter Tag, sich zu finden!Verbeugung vor dem Paradoxon von Orientierungslosigkeit und Selbstfindung.
LG Jadugaar
Maud Morell 05/04/2019 16:28
Diese Art der Kunst kommt gar nicht bei mir an.Es gibt keinen Ruhepunkt, keinen Mittelpunkt,
nur ein heilloses Durcheinander.
Der Link hat nicht funktioniert.
Trotzdem ein Motiv welches wie ich lese zur regen Diskussion führt.
LG von Maud
Gert Rehn 07/01/2019 10:25
Deine Aufnahme ist sehr gut. Aber mir gefällt die Installation gar nicht, weil sie die Ambitionen des Architekten überdeckt, der ja immerhin hochwertige farbige Fenster eingesetzt hat. Diese werden nun von der Lampenkollektion völlig verdrängt. Er hätte diese in einem Raum entweder ohne Fenster oder neutralem Glas einbauen sollen. HG GertMarkus Novak 28/10/2018 19:47
ein wunderbares Bild und Kunstwerk gleichermaßen! Ich mag es darin herumzuschauen und zu entdecken ... ich mag dementsprechende Bilder sehr, meine Frau fühlt sich bei solchen Gelegenheiten oft erschlagen ... zu viele Details.LG markus
Carsten Mundt 16/10/2018 20:52
"„Mit dem Bindemittel des Friedens sind die lebendigen Steine zusammengefügt | und in gleichmäßiger Zahl stimmt alles überein. | Es leuchtet das Werk des Herrn, der die gesamte Halle errichtet | und den frommen Bemühungen der Menschen Erfolg gibt. | Ihr Bauwerk ewigen Schmuckes wird bestehen, | wenn der Urheber es nach der Vollendung schützt und regiert. | So gebe Gott, dass dieser sichere Tempel auf festem Fundament, das der Herrscher Karl gründete, besteht.“[41]""Das im Zentrum des Doms gelegene karolingische Oktogon wurde zwischen 795 und 803 nach byzantinischen Vorbildern (San Vitale in Ravenna, Santa Constanza in Rom, Kirche der Heiligen Sergios und Bakchos in Konstantinopel) als Kapelle der Aachener Kaiserpfalz errichtet. Man geht davon aus, dass sich diese Bauten mit ihrer idealen Zentralbaugeometrie an antiken Vorbildern wie dem Pantheon in Rom orientierten, das im Mittelalter als Ideal der vollkommenen Architektur angesehen wurde"
https://de.wikipedia.org/wiki/Aachener_Dom#Zentralbau_(Oktogon_und_Sechzehneck)
Nun ist es, lieber Eckhard, zwar noch ein Schritt, oder auch zwei, drei.. vom Achteck über das Sechzehneck bis hin zum Poly-Hoch-n-gon, aber gemeinsam sind dem Aachener Dom und dem Jurtenzelt immerhin, dass die Ecken eine harmonische geometrische Figur ergeben, was ja nicht gottgegeben ist, denn es ja gibt ja auch die "überschlagenen" Vielecke, die eine deutlich weniger harmonische Form abgeben.
So mag man den in beiden Gebäuden eine Art innerer Logik vermuten, einer Harmonie, die man als das Werk einer höheren Macht ansehen könnte.. beim Kirchenbau denkt man natürlich naheliegend an Gott, beim Jurtenzelt mag das eher eine Harmonie sein, die aber auch in der "Welt an sich" vorhanden ist, und der alles folgt (folgen muss). Darin mag der Begriff, dass der Mensch Gottes Ebenbild sei, seine einfachste Erklärung finden, denn dass Gott so aussieht wie wir, ist ja doch irgendwie eine seltsame Vorstellung, es ist womöglich eher die innere Harmonie der Dinge, der Natur, die auch im Menschen liegt, auch wenn er häufig danach strebt, diese zu zerstören, aber letztendlich strebt alles dann doch wieder einer Ordnung zu, ist sehr wahrscheinlich auch das Chaos und die Unordnung selbst ein Teil der Odnung.Nun sucht der Mensch immer und stetig nach einem Sinn, versucht, die Lichter und Irrlichter die er sieht, einzuordnen, zu enträtseln, eine Weltformel zu finden, und eckt doch immer wieder an, weil auf das einst kleinste Teilchen, dem "Unteilbaren" Atom dann doch immer noch kleinere Folgen, Elektonen, Positronen, Joghurts und Quarks. und noch immer ist das Rätsel nicht gelöst.Vielleicht sollte man doch öfters mal in Vielecken denken, anstatt in Kreisen, immerhin besteht in der virtuellen Welt alles aus Polygonenhttps://www.gamestar.de/artikel/3d-grafik-im-wandel-der-zeit-teil-8-polygone-in-spielen,2562832.html"Nun widmen wir uns den grundlegenden Bausteinen, aus denen virtuelle Welten bestehen, den Polygonen. Von diesen Vielecken werden in Spielen jedoch lediglich Dreiecke eingesetzt, weil beispielsweise ein aus zwei Dreiecken zusammengesetztes Quadrat für die Grafikkarte schneller zu berechnen ist als ein echtes Quadrat."Gott ist ein Dreieick, so einfach ist das.
peju 08/10/2018 12:28
Wartemarke :-)† werner weis 28/09/2018 19:29
-"... der Verlust der Übersichtlichkeit ..."
doch man hört nie auf, sich wieder eine Übersicht zu verschaffen
gerade bei der Globalisierung, gerade bei der Überbesiedlung des
Planeten
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leuchtende Lichtquellen leiten und führen - besser es ist einzelner Stern
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hier sind es sehr viele Lichtquellen - wo ist der einzelne Stern?
wo ist das Kind in der Krippe ...
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gute Kunst führt weiter
so führt sie mich hier zur Krippe - das wollte ich gar nicht, doch
gelungene Kunst legt auch Prägungen aus der eigenen Biografie offen
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Rekapitulieren wir:
der Planet ist überbesiedelt und hat zu viele Lichtquellen
jeder Mensch ist für sich nicht "zu viele", wenn/weil er Mensch ist
(so kann man "Wer bin ich und wenn, wie viele?" auch mal umgedreht denken ...
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Günter de Graph 26/09/2018 10:06
Die Lampenpräsentation erscheint hier als wunderschönes Muster.Liebe Grüße......... Günter
E. W. R. 13/09/2018 20:46
Es gibt ja auch Käferzähler und Vögelzähler. Ist bereits das ziemlich merkwürdig, wäre es bei den Sternen des Universums jedenfalls absurd. Irgendwann merkt der Mensch hoffentlich, dass er für das Universum weniger als eine Mikrobe ist.peju 12/09/2018 14:31
Wenn man Muße hätte, die Lichter zu zählen müsste man vielleicht auf einer starken Vergrößerung jedes einzelne...abhaken.Es wird nicht so lange dauern wie der Versuch die Sterne des Himmels zu zählen (was ja von vornenerein unmöglich ist) aber die Menschen tun so was...wobei bei beidem man doch sehr ins Nachdenken käme...
Gruß
Peter
† werner weis 10/09/2018 22:41
unfassbar† dannpet 09/09/2018 22:46
Gute 'Foto-Broschüre' für die FC!Kunst schafft Räume, Kunst verbindet Räume...
ins 'richtige' Licht getaucht kann sie diese Räume zwar aus- aber nicht erleuchten, denn dazu braucht es offenen Raum im Gegenüber.
"Ring the bells that still can ring
Forget your perfect offering
There is a crack in everything
That's how the light gets in"
https://www.youtube.com/watch?v=mDTph7mer3I
Gruß... ...
Horst Schulmayer 26/08/2018 23:25
Ob man da zur Erleuchtung kommt? Moderne Kunst ist keine leichte Kost ...Gruß Horst
manfred.art 23/08/2018 16:29
im ersten moment erschlägt es ein... doch dann bekommt das auge etwas ruhe, man schaut auf die einzelheiten, vergleicht und geht wieder auf ganze über, man sieht hier nur die kuppel, räumlích gesehen wird der eindruck ein anderer sein, so meine gedanken.......... fotografisch, lieber eckhard, ein hochgenuss.... wirklich!! brilliant in allen einzelheiten, chapeau! glg manfredChristoph Beranek 22/08/2018 12:17
Im ersten Moment wähne ich mich in einem Planetarium und betrachte die unendlich erscheinenden Sterne und Planeten. Erst der ausführliche Begleittext bringt mich auf andere gedankliche Spuren. Synapsen, die unsere digitale Welt und unsere Kommunikation beschreiben, kaum fassbar und überfordernd für unsere Sinne und den daraus resultierenden Gedanken. Andererseits ist auch die Möglichkeit eines perspektivischen Wechsels möglich und mit ihm, die Gewinnung von Klarheit. Ein Labyrinth aus der Vogelperspektive, als Möglichkeit. Dennoch bleiben bei mir Irritationen und der Gedanke, dass die Welt, so wie wir sie wahrnehmen, jeder einzelne für sich, das Ergebnis einer konstruierten Wirklichkeit ist. Eine vieldeutige Installation, die auf faszinierende Weise unsere Sinne und Gedanken zum vibrieren bringt :-)Eine beeindruckende Arbeit mit nachhaltiger Wirkung.
LG Christoph