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meine kleine glückliche Welt

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Siegmar v. L.


Premium (World), Münster - (Shanghai) - Buenos Aires

meine kleine glückliche Welt

Chinas schwarze Kinder

Millionen Chinesen leben in der Illegalität, weil ihre Familien gegen die Ein-Kind-Politik verstoßen haben. Und bezahlen den Preis für das größte demografische Experiment der Menschheitsgeschichte.


• Für ein Kind, das eigentlich gar nicht existiert, ist Wang Bochao ganz schön lebhaft. Juchzend kickt er seinen Fußball durch die Wohnung, von der Küche zur Couchecke und zurück, immer wieder, bis der Großvater aus seinem Zimmer kommt und ihm einen strengen Blick zuwirft. Artig zieht sich der Vierjährige aufs Sofa zurück und schaltet den Fernseher an. Blecherne Trickfilmstimmen plärren durch den Raum. "Stell den Ton leiser, sonst kommt Opa gleich wieder", ruft seine Mutter. Doch was kümmert ihn die Lärmempfindlichkeit der Erwachsenen?

Wang Bochao lebt in einer Neubausiedlung am Stadtrand von Peking. Dort hat seine Familie vor einigen Jahren im Tausch für ihr Ackerland, das einer Autobahn weichen musste, eine Hochhauswohnung zugewiesen bekommen. Er ist ein Kind wie Millionen andere in China: aufgeweckt, liebenswert, anstrengend – und illegal. Denn er ist das zweite Kind seiner Eltern und hätte nach Auffassung der örtlichen Familienplanungsbehörde nie das Licht der Welt erblicken dürfen. Mit seiner Geburt habe die Familie gegen die Ein-Kind-Politik verstoßen, sagen die Beamten. Und wenn seine Eltern erwidern, dass Chinas Gesetz Landbewohnern wie ihnen durchaus ein zweites Kind erlaube, schalten sie auf Durchzug. Bochaos Existenz wollen sie erst anerkennen, wenn die Familie die sogenannte Gesellschaftsversorgungsgebühr bezahlt, eine Art Entschädigung für die Kosten, die er der Gemeinschaft verursacht. "Sie verlangen 143.850 Yuan", sagt seine Mutter Feng Yajie in einem Ton, als habe man sie aufgefordert zu fliegen. Feng und ihr Mann arbeiten in einem Kaufhauslager, und 143.850 Yuan (18.000 Euro) entsprechen etwa zwei Jahreseinkommen. Doch bevor die Familie das Geld nicht aufbringt, hat ihr Sohn kein Anrecht auf einen öffentlichen Kindergarten- oder Schulplatz, bekommt keine Krankenversicherung und schon gar keinen Personalausweis. Er lebt staatenlos im eigenen Land.

Seit fast 34 Jahren ist die Ein-Kind-Politik der Stoff, aus dem chinesische Familiendramen gemacht sind. Eingeführt, um Chinas rapides Bevölkerungswachstum zu bremsen und die knappen Ressourcen an Ackerland und Rohstoffen zu schonen, hat sich die Geburtenplanung als umstrittenstes demografisches Experiment der Menschheitsgeschichte erwiesen. Deng Xiaoping rühmte es einst als "Zeichen des höchsten Humanismus", und die Pekinger Regierung rechnet vor, dass China ohne die Geburtenbeschränkung heute 400 Millionen Menschen mehr versorgen müsste. Kritiker halten dem entgegen, dass die Ein-Kind-Politik die Alterung der Gesellschaft beschleunige und das Verhältnis der Geschlechter aus dem Gleichgewicht gebracht habe.

Doch vor allem ist es die menschliche Tragweite, die das Unterfangen unheimlich erscheinen lässt. Das bessere Leben, das die Geburtenplanung verspreche, sei mit Millionen schlechteren Leben erkauft, kritisieren Menschenrechtsaktivisten. Denn durchzusetzen sei die Politik nur mit den Mitteln eines autoritären Staates, der seine Methoden nicht zur Debatte stellen muss. Unzählige Frauen werden zu Abtreibungen oder Sterilisationen gezwungen. Wo die Schwangerschaftspolizei nicht rechtzeitig interveniert, werden Familien ihrer Existenz beraubt, indem sie horrende Bußgelder zahlen oder ihr gesamtes Hab und Gut abgeben müssen. Und ihre Kinder werden gleich mitbestraft, indem der Staat ihnen die Bürgerrechte verweigert. "Hei Haizi" werden die verbotenen Zweit- oder Dritt-Kinder deshalb genannt: "schwarze Kinder".

"Wenn wir das Strafgeld nicht irgendwo auftreiben können, wird Bochao ein Leben lang benachteiligt sein", sagt Feng Yajie. Während die Nachbarskinder in einen gut ausgestatteten staatlichen Kindergarten mit Spielplatz und Englischfrüherziehung gehen, verbringt ihr Sohn die Tage zu Hause mit seinem Großvater. Wirklich schwierig wird es, wenn Bochao in zwei Jahren ins Schulalter kommt. Die öffentliche Schule, die seine ältere Schwester besucht, würde ihn zwar aufnehmen, aber nur gegen hohe Gebühren, die sich das Ehepaar kaum leisten kann – zumal, wenn es Geld sparen will, um seinen Sohn eines Tages zu legalisieren.

Die billigere Alternative wäre eine private Wanderarbeiterschule, doch die ist schlecht ausgestattet und staatlich nicht anerkannt. Im scharfen chinesischen Bildungswettbewerb könnte Bochao mit einer solchen Ausbildung nicht mithalten. "Die Situation bringt uns alle zur Verzweiflung", gesteht Feng. Ihre Eltern seien beide krank geworden, und sie selbst leide unter Schlafstörungen. "Wir versuchen, unsere Sorgen von den Kindern fernzuhalten, aber es fällt uns schwer, fröhlich und optimistisch zu sein."

Wie viele Mütter Fengs Kummer teilen, ist unklar, doch es dürften Millionen sein. Chinas jüngste Volkszählung im Jahr 2010 ergab, dass 13 Millionen Chinesen nicht staatlich registriert sind. Die öffentlich zugänglichen Daten enthalten zwar keine Angaben über die Gründe, doch chinesischen Experten zufolge handelt es sich dabei überwiegend um schwarze Kinder. "Wahrscheinlich sind es in Wirklichkeit noch mehr, denn viele werden versucht haben, sich vor den Volkszählern zu verstecken", sagt der Bevölkerungsforscher Liang Zhongtang, ehemaliges Mitglied der Pekinger Kommission für nationale Bevölkerungs- und Familienplanung.

13 Millionen Illegale: Das entspricht einem Prozent der chinesischen Bevölkerung oder in etwa der Einwohnerzahl von Bayern. Ohne Papiere haben sie in China kaum Chancen auf eine gute Ausbildung und später auf eine feste Arbeit. Wenn ihre Familien es sich nicht leisten können, ihre schwarzen Nachkommen zu legalisieren, haften die Kinder für ihre Eltern.

Manchmal hilft höhere Gewalt

Auch Wen Qiang hätte nie zur Welt kommen sollen. Ein Unwetter rettete ihm das Leben. "Meine Mutter war im neunten Monat mit mir schwanger, als sie von der Familienbehörde entdeckt wurde", erzählt der 25-jährige Bauernsohn aus der zentralchinesischen Provinz Hunan. Die Beamten hätten sie mit Gewalt in ein Auto gezerrt und zur Zwangsabtreibung ins Krankenhaus fahren wollen, doch ein Gewitter habe die Bergstraßen unbefahrbar gemacht. Vor Aufregung hätten bei seiner Mutter die Wehen eingesetzt, und so sei er doch noch lebend geboren worden. Wen ist das dritte Kind seiner Eltern.

"Ich habe zwei ältere Schwestern, und meine Eltern wollten unbedingt noch einen Jungen", sagt er. "Bauern wünschen sich eben unbedingt einen Sohn, der einmal den Hof übernehmen kann." Zur Strafe konfiszierte das Parteikomitee des Dorfes das gesamte Mobiliar der Familie. Viel gab es nicht zu holen: einen Tisch, einige Hocker und ein selbst gezimmertes Bett.

Von seinem Status bekam Wen zunächst nicht viel mit. Zwar hänselten ihn seine Schwestern mit dem Spitznamen "schwarzes Brüderchen", doch dafür war er als Sohn der Liebling seines Vaters und der Großeltern. Da die Familie gute Beziehungen zu den örtlichen Kadern pflegte und ihnen regelmäßig Schnaps und Zigaretten zukommen ließ, durfte der Junge die örtliche Schule besuchen. Doch obwohl er zu den Klassenbesten gehörte, blieb ihm der Weg auf eine bessere Schule in der Kreisstadt verwehrt. "Alle Lehrer haben mich mitleidig angeschaut", erinnert er sich. "Ich war ein Kind zweiter Klasse."

Erst als er 14 war, hatten seine Eltern genug Geld gespart, um ihr Bußgeld zu bezahlen und ihm eine offizielle Meldebescheinigung zu besorgen. Einige Jahre früher hätte er womöglich noch eine Chance gehabt, im städtischen Schulsystem Fuß zu fassen und die Universitätsaufnahmeprüfung zu schaffen, doch so blieb ihm nur der Weg auf die Berufsschule, was in China allgemein als minderwertige Ausbildung angesehen wird. Heute arbeitet er in einem Reisebüro. "Manchmal denke ich darüber nach, was hätte werden können, wenn ich kein schwarzes Kind gewesen wäre", sagt Wen. "Aber dann verdränge ich den Gedanken lieber schnell wieder."

In einem freien Land hätten die schwarzen Kinder und ihre Eltern wohl längst Interessenvereinigungen und Internetplattformen gegründet, um sich gegen die Diskriminierung zu wehren. Doch da ihr Problem an die Wurzeln von Chinas politischem System rührt, trauen sich in der Volksrepublik nur wenige, öffentlich darüber zu sprechen. Zu groß ist die Gefahr, sich mit einem Machtapparat anzulegen, der bei der Verteidigung seiner Autorität nicht nach Recht und Gesetz fragt.

Einer der wenigen Mutigen ist Yang Zhizhu, Jura-Professor an der Pekinger Universität für politische Wissenschaften des Parteijugendverbandes. Der 46-Jährige hat selbst zwei Kinder und in einem spektakulären Gerichtsprozess versucht, für seine jüngere Tochter einen Personalausweis zu erstreiten. "Ich ahnte natürlich, dass ich nicht gewinnen würde", sagt er. "Aber jemand musste es einfach mal versuchen."
Herr Yang fordert den Staat heraus

Der Professor lebt mit seiner Familie in einer engen Wohnung auf dem Universitätscampus. Die Möbel sind alt und abgenutzt, die Wände mit Kinderkritzeleien bemalt. Durch die undichten Fenster zieht kalt der Herbstwind. Yang spricht laut und in schnellen Salven, wie ein Mann, .....

Text: https://www.brandeins.de/magazine/brand-eins-wirtschaftsmagazin/2012/das-gute-leben/chinas-schwarze-kinder

Commenti 1

  • homwico 08/11/2018 22:10

    Aber das "Victory" wird sich hoffentlich einmal durchsetzen. Eine tolle Story über die Schicksale.Zwar sehr lang aber wirklich lesenswert !
    Für uns kaum vorstellbar........
    LG homwico

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