Tausende Franzosen für die DDR...
Innerhalb der allgemein als "Ostblock" bezeichneten Staaten gab es mit dem "Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe" (RGW) nach dem zweiten Weltkrieg ein Instrument, welches den Handel innerhalb dieser Länder koordinierte und der vorschrieb, welches Land welche Produkte herstellen durfte. Eine der bekanntesten "Blüten" ist dabei die Beschaffung der ehemaligen Reichsbahn im Bereich der leistungsfähigen Großdieselloks, welche entweder aus dem sowjetischen Luhansk bzw. Woroschilowgrad (V 200 "Taigatrommel" / Wumme und V 300 "Ludmilla") oder dem rumänischen Bukarest (Baureihe 119, später 219 "U-Boot") bezogen wurden.
Die Verschuldung der DDR im Ausland wuchs jedoch von Jahr zu Jahr, gleichzeitig mussten durch die Transferrubel-Regelung Maßnahmen ergriffen werden um Devisen (Wikipedia: Zahlungsmittel bzw. Forderungen, die auf Fremdwährungen lauten und im Ausland unmittelbar eingelöst bzw. zur Zahlung verwendet werden können, mit Ausnahme von Bargeld) zu beschaffen.
Link zum Außenhandel der DDR: https://www.mdr.de/zeitreise/ddr-aussenhandel-die-aussenhaendler104.html
Anfang der 1970er Jahre beschaffte die Deutsche Reichsbahn bei der Ateliers de Construction du Nord de la France (ANF), gelegen in Crespin an der Grenze zu Belgien, 3.900 offene Schüttgutwagen für den Transport von nässeunempfindlicher Ladung. 1994 gelangte bis auf etwas über 40 Wagen der komplette Bestand in den Fuhrpark der Deutschen Bahn. In den seitdem mittlerweile 26 zurückliegenden Jahren wurden die Waggons, welche sich durch ihre Konstruktion von der deutschen Variante mit breiterem Oberkasten unterschieden, allerdings zu großen Teilen ausgemustert. Mit Stand 2010 waren noch 400 Wagen im Einsatz, ihre Zahl dürfte mittlerweile weiter deutlich zurückgegangen sein.
Anzutreffen sind sie heute wie damals im Transport von Schüttgütern, heute vorrangig Schotter für Gleisbaustellen. Im Bereich des Bahnhof Wabern konnte ich dabei vor einigen Wochen den Wagen mit der Nummer 21 80 6455 489-0 (Bauart Fcs 088) ablichten, welcher dort vermutlich auf die Überführung zur Schotterverladung nach Gensungen-Felsberg wartete. Auch wenn das Eigentümer-Logo definitiv schon bessere Zeiten gesehen haben dürfte präsentierte er sich an jenem Abend in einem guten Zustand, die Beulen im Oberkasten zeugen vom nicht unbedingt zimperlichen Umgang mit diesem fast 50 Jahre alten Waggon...
Und bevor wieder Fragen aufkommen: Aufnahmestandort war nicht auf einer Leiter mitten zwischen den Gleisen, sondern aus dem Führerstandsseitenfenster einer Elektrolok der Baureihe 185. ;-)
Aufnahmedatum: Donnerstag, 26. März 2020 - 18:15 Uhr
Quelle: Wikipedia.de, dybas.de, mdr.de & eigene Aufzeichnungen
Matthias Buettner 30/04/2020 18:58
Hochinteressant, Deine Infos zu diesem Waggon!Dass gerade eine französische Firma Waggons in den Ostblock lieferte, wusste ich nicht und es erstaunt mich.
Übrigens, diese Lok wurde ebenfalls von ANF erbaut, allerdings Jahre vorher: Vielen Dank für Deine interessante Recherche zu diesem alten Schüttgutwagen und viele liebe Grüße, Matthias
makna 30/04/2020 12:20
Dieses Portrait des Fcs 088 und die dahinter stehende Geschichte ist bemerkenswert !!!Allerdings sehe ich einen Widerspruch: Hatte sich die DDR gegenüber ihren "Brüdern"
des COMECON (= RGW) in Transferrubel hoch verschuldet, war die Beschaffung von 3.900 Waggons im Westen kontraproduktiv, da dazu die wahren Devisenreserven in
Westwährung (Dollar, D-Mark, Francs) angegriffen werden mußten ... während die Transferrubel-Bilanz durch die immensen Lieferungen der DR-Waggonindustrie
(v.a. Ammendorf, Bautzen, Dessau, Görlitz und Niesky) an alle RGW-Länder
mit UIC-Y-Wagen sowie an die UdSSR mit zahlreichen Reisezug-, Schlaf-
und Speisewagen aus Ammendorf (siehe Fotos unten), der immensen
Zahl von 41.790 Maschinenkühlwagen aus Dessau sowie weiteren
Spezialwaggons, nicht zu vergessen den Kirow-Kränen,
einen hohen positiven Verrechnungsbeitrag ergab !
http://www.kuehlwaggon.de/lieferungen/sowjetuniongus/index.html
Zudem hatte LEW Hennigsdorf u.a. eine große Zahl an Werks- und Grubenlokomotiven
an RGW-Länder sowie nach China geliefert:
https://de.wikipedia.org/wiki/LEW_EL_2
https://de.wikipedia.org/wiki/LEW_EL_3
Dein Link zu dem MDR-Artikel zeigt auf, dass die DDR sich vor allem bei Konsumgütern
(und daher mit diesen aus Frankreich beschafften Waggons nur ausnahmsweise) im
Westen stark verschuldete, um den Lebensstandard ihrer Bevölkerung und die
Zufriedenheit zu heben ... was auf mittelfristige Sicht zum Staatsbankrott
geführt hat, der bereits 1987/88 zu verzeichnen war, und eben
auch durch die Strauß-Milliardenkredite 1983 nicht
aufzuhalten war !!!
https://www.bundesbank.de/resource/blob/689284/7410029db56fb56ea6ce81816f8017ee/mL/zahlungsbilanz-ddr-data.pdf
Die Außenhandelsbilanz mit Staaten des Sozialistischen Wirtschaftsgebiets, vor allem
also des RGW (UdSSR, Bulgarien, CSSR, Kuba, Mongolei, Polen, Rumänien, Ungarn
und Vietnam) erfolgte über die IBWZ (Internationale Bank für wirtschaftliche Zusam-
menarbeit; Moskau) in den besagten "Transferrubeln", deren "Kurs" wie folgt
festgelegt worden war (M/VGW = Mark/Valuta-Gegenwert):
1975: 1 Transferrubel = 5,50 M/VGW
1976 - 1980: 1 Transferrubel = 5,00 M/VGW
1981 - 1989: 1 Transferrubel = 4,67 M/VGW
Zu den weiteren Ländern des Sozialistischen Wirtschaftsgebiets zählte die DDR damals
Albanien, China, Jugoslawien, Kambodscha, Laos, Mocambique, Nordkorea ... aber
gewiß nicht Frankreich ... ;-)
... da mußten also für die Wagen "harte Devisen" aus den Reserven genommen werden.
So ist es eben nur vorstellbar, dass die Deutsche Reichsbahn einen ganz dringenden
Bedarf an diesen Schüttgutwagen hatte, die heimische Waggonbauindustrie aber
durch Aufträge aus den Staaten des Sozialistischen Wirtschaftsgebiets derart
ausgelastet war, dass solch' ein West-Import der einzige Ausweg war:
Ein spannendes Kapitel deutscher Wirtschafts- und Eisenbahngeschichte !!!
Danke, dass Du darauf hingewiesen hast ... da "mußte" ich mich gleich
mal darin vertiefen: sehr anregend, wie stets bei Deinen Motiven !
BG Manfred