Camera obscura 6x12
"Ludmilla F (Fall 2301-F) habe ich aus der Psychiatrie von O.
übernommen. Sie litt an einer mentalen Agnosia. So hielt sie
eine schlafende Katze für einen Laib Brot, einen vorbeifahrenden
Wagen für eine Kuh, eine Straßenlaterne für einen Baum und so
weiter. Form und Größe der Gegenstände schienen eine nur vage
Orientierung zu bieten.
Im letzten Monat entdeckte ich eine bemerkenswerte Abweichung.
Während es ihr im wirklichen Leben nicht gelang, Gegenstände
zu bestimmen, konnte Ludmilla die Dinge zu meiner Überraschung
auf Photographien zweifelsfrei erkennen.
Dieser unscheinbare Moment, da ich bemerkte, daß Ludmilla im
Erkennen der Welt zwar scheiterte, deren Abbild jedoch richtig
zuordnen konnte, trieb eine Woge des Erschauderns durch mich.
Bemerkenswert und paradox rätselhaft zugleich, denke ich seit
Tagen darüber nach. Sollte dieses stille Erzittern eine dunkle
Vorahnung sein auf eine gewaltige Erschütterung dessen, was
wir zu wissen glauben? Ich hielt bislang unsere Sinne für
Außenposten des Geistes, Türme, hineingebaut in die Welt
zum ausspähen derselben. Sollte sich der Gedanke aufdrängen,
wir hätten es mit blinden Türmen zu tun? Dann würden die Dinge
nur so scheinen als Folge, weil wir sie derart beschreiben.
Wir dächten aber umgekehrt, daß unsere Beschreibungen sich
an den Dingen orientieren. Wie aber konnten wir jemals annehmen,
die Welt von unseren blinden Türmen aus zu sehen?
Ludmilla erkannte einzig die Photographien, so wurde sie unversehens
mahnender Rufer im Meer der Blinden, die sich für sehend halten.
Die Welt ist nicht daran interessiert, erkannt zu werden.
Es ist vollkommen unrelevant, aber es bleibt noch viel darüber
nachzudenken."
*
Dr. Gordon Mendenhall, Psychiater,
Tagebucheintrag vom 16. März 1926
*
franz13 23/10/2011 21:50
sehr schönHeinz Wille 24/04/2011 15:55
yes...VG Heinz
Maria João Arcanjo 24/04/2011 10:26
++++Good EasterBeijinhosMJ
Sylvia Mancini 24/04/2011 6:51
!Christian Gaier 24/04/2011 2:54
Danke!Muck0111 23/04/2011 22:07
klasse Foto, klasse Text, Respekt....